Ss. Die Völkerrechtswissenschaft. 33
sind nicht bloß Daten, die um ihrer selbst willen das wissenschaftliche Interesse
anregen, — dieses findet vielmehr seine volle Befriedigung erst in dem Nach-
weis des ursächlichen Zusammenhangs und ihrer in obersten Prinzipien er-
kannten Einheit. Die heutige Wissenschaft vindiziert sich aber auch die
Aufgabe, auf die Weiterbildung und Verbesserung der bestehenden Ordnung
mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu wirken. Gerade nach dieser
Seite hat die Völkerrechtswissenschaft seit ihrer Entstehung im Völkerleben
eine bedeutsame Rolle gespielt!). — Gegenüber den Problemen, die der stetig
zunehmende Völkerverkehr hervorruft, erwächst den Staaten die Aufgabe,
Normen zu schaffen, die in letzter Reihe den Zwecken des internationalen
Gemeinlebens dienen. Die Anerkennung betreffender Normen beruht aber auf
autonomen Willensakten, die selbst wieder bedingt sind durch eine klare Er-
kenntnis des zu regelnden Verhältnisses, der Zwecke und Bedürfnisse, die zu
erfüllen bezw. zu hefriedigen sind, — kurz durch die Erkenntnis der Natur
der Sache, jenes maßgebendsten Motivs aller Rechtsbildung 2). Diese Er-
kenntnis kann in doppelter Beziehung zur Rechtsbildung gedacht werden.
Eine unmittelbare Beziehung ist vorhanden, wenn wir die rechtsbildenden
Akte der formell zur Schaffung von Rechtsnormen berufenen Organe in Be-
tracht ziehen; die Erkenntnis der in der Natur der Sache liegenden Regel,
von der diese Organe ausgehen, führt hier unmittelbar zur Gestaltung der.
Rechtsnorm. Dagegen tritt die in der Wissenschaft sich bildende Erkenntnis
der Natur der Sache nur in eine mittelbare Beziehung zur Schaffung von
Rechtssätzen, zur Abänderung und Weiterbildung des geltenden Rechts; die
Wissenschaft kann nicht selbst Normen schaffen, dagegen beeinflußt sie die
Rechtsbildung durch Prüfung bestehender Rechtssätze im Hinblick auf die
Forderungen der Natur der Sache und dadurch, daß die Ergebnisse der
wissenschaftlichen Erforschung der Natur der menschlichen Gemeinverhältnisse
allmählich in das Bewußtsein der rechtsetzenden Organe eindringen. Die Be-
deutung der Wissenschaft für die Prüfung und Weiterbildung des Rechts tritt
namentlich auf dem Gebiete des Völkerrechts um so bedeutsamer hervor, als
dieses Rechtsgebiet nur eine unvollständige Ausbildung gefunden hat und das
1) Dabei darf freilich nicht überschen werden, daß jeweilige Strömungen des prak-
tischen Staatslebens und die Herrschaft aktueller Interessen die Wissenschaft in verschiedener
Art beeinflussen, gegensätzliche Strömungen in der Wissenschaft selbst hervorrufen, deren
Klärung und Ausgleichung sich nur allmählich vollzieht. Ferner ist der Gegensatz parti-
kularistischer und kosmopolitischer Tendenzen nicht ohne Einfluß auf die Behand-
lung internationaler Probleme geblieben. Die letztere Tendenz hat zu mancherlei Projekten
geführt (europäische Staatenkonföderation, ständiges Völkertribunal usw.) die an einer augen-
fälligen Verkennung der historisch gegebenen Grundlagen des Völkerrechts leiden. Vgl. be-
züglich jener zweifachen Tendenz Despagnet, Cours p. 47, 48.
2) Über die motivierende Bedeutung der „Natur der Sache* für die Entstehung von
Rechtsregeln vgl. Unger, System des österr. Privatr. (4. Aufl.) I, 67; siche ferner Pfaff
und Hofmann, Kommentar zum österr. allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch I S. 194 ff.:
von der Decken, Das vorbestimmte Recht (1889); Regelsberger, Pandekten I S. 6%
Mit Rücksicht auf die Bildung von Völkertechtssätzen Jellinek, Die rechtliche Natur der
Staatenverträge S. 44, 45; Gareis $8; Rivier, Lehrb S. 10.
Ullmann, Völkerrecht. 3