422 Siebentes Buch. Gemeinsame Wirksamkeit der Staaten etc. $ 146.
$ 146. 12. Steuern. Zollwesen.!) I. Auf dem Boden der heutigen
Auffassung der Gemeininteressen der Angehörigen der Völkergemeinschaft
mußte die Geltendmachung der formellen Konsequenzen der Finanzhoheit in
Gestalt des jus albinagii, der gabella hereditaria, der Abschoßgelder u. s. w.
einer sachgemäßen Auffassung der Ausübung dieses Hoheitsrechts und sohin
einer Reihe von Beschränkungen zu Gunsten jener Gemeininteressen weichen.
Auch hier macht sich die Macht jener Verhältnisse geltend, die mit der
Koexistenz der Staaten innerhalb der internationalen Gemeinschaft gegeben
sind und einen konstanten Einfluß auf das Verhalten der Staaten bei der Aus-
übung ihrer Hoheitsrechte ausüben. So kam es, daß in der Neuzeit die oben
bezeichneten, den Personen- und Vermögensverkehr belästigenden Rechte, die
den Güterverkehr beschränkenden Stapelrechte u. s. w. (Art. 114 der Wiener
Kongreßakte) abgeschafft wurden, ferner sowohl durch Landesgesetze wie auf
Grund von Einzelverträgen den Fremden nicht mehr besondere finanzielle
Lasten auferlegt werden.
II. Dem internationalen Rechtsbewußtsein und der Wahrung anerkannter
Rechtsansprüche gegenüber dem Einzelstaat entspricht der in neuerer Zeit
aus Anlaß von Fällen der Zahlungsunfähigkeit von Staaten hervorgetretene
Gedanke gemeinsamen Vorgehens jener Staaten, denen die Gläubiger an-
gehören, gegen den zablungspflichtigen Staat.) So wurde in neuerer
Zeit seitens betreffender Staaten eine Kontrolle der Finanzverwaltung des
insolventen Staats organisiert in der Türkei,’) in Tunis (seit 1869),*) in
Egypten,5) in Griechenland (seit 1898).
III. Die gegenseitige Abhängigkeit der wirtschaftlichen Interessen der
Verkehr pflegenden Staaten in der Zeit der Ausbildung des Handels zum
Welthandel und des Verkehrs zum Weltverkehr mußte dem autonomen Vor-
gehen der Staaten auf dem Gebiete des Zollwesens gleichfalls gewisse Grenzen
ziehen — abgesehen von jenen, welche drohende Retorsionsmaßregeln gegen
neuesten Verträgen (mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, Rumänien, Serbien und der
Schweiz (dagegen nicht mit Rußland).
ı) F. v. Martens 11 8. 226 ff.; Hartmann S. 222; Rivier, Principes I p. 364 sq.
2) Vgl. neuestens Meili, Der Staatsbankerott und die moderne Rechtswissenschaft
(1895); Politis, Les emprunts d’Etat en droit intern. (1894). Die (vierte) Preisaufgabe der
Bluntschli-Stiftung betraf das Thema „Staatsbankerott und internationales Recht“. Der Preis
wurde den Arbeiten von Diena (Siena) und Pflug (Nürnberg) zuerkannt. Vgl. auch die
bei Riyvier, Principes I 8. 273 abgedruckten Sätze aus einer Depesche Palmerston’s vom
Januar 1848, der sich für die Intervention des Staats im Interesse seiner Angehörigen gegen
den leistangspflichtigen bezw. zahlungsunfähigen Staat ausspricht, aber die Ausübung des
Interventionsrechts von Rücksichten der Konvenienz und dor äußeren Politik abhängig macht.
3) Die Öffentliche Schuld wird von einer Kommission verwaltet, in der Deutschland,
Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich und Italien vertreten sind.
4) Inzwischen wurde Tunis dem französischen Protektorat unterstellt und übernahm
Frankreich durch Gesetz vom Jahre 1889 die Garantie der Ansprüche der Gläubiger.
5) Die Anleihe vom Jahre 1885 ist von den Mächten garantiert; das Finanzministerium
wird von einem Engländer verwaltet, der Generaldirektor der Zölle ist ein Franzose; eine
Kommission, bestehend aus Delegierten der 6 Großmächte verwaltet die Staatsschuldenkasse.
Vgl. Kaufmann, R XXlIl 556 sq., XXIII 48 sq., 144 sq., 226 sq.