$ 148. Die internationalen Streitigkeiten. 431
hin, welche geradezu eine Verkennung der Grundlagen gleichberechtigter
Koexistenz und rechtlich gesicherter Betätigung des Gemeinwillens der einzelnen
Völkerrechtssubjekte bekundet.
Neben Konflikten, die auf einem bedeutsamen Interessengegensatz be-
ruhen, und solchen, die auf das Walten imponderabler Faktoren zurückzuführen
sind, kommen Konflikte vor, die in bloßen Verletzungen der Völkersitte be-
ruhen; sie sind jenen reinen Interessenkollisionen gleichzustellen, da die Normen
der Sitte keine Rechtsnormen sind, deren Verletzung ein rechtswidriges Ver-
halten nicht bilden kann; sohin sind die nach Völkerrecht üblichen spezifischen
Mittel der Austragung rechtlich qualifizierter Konflikte hier nicht anwendbar !).
Von den eben charakterisierten Konflikten, die man als politische
Konflikte zu bezeichnen pflegt, unterscheiden sich die rechtlichen Kon-
flikte. Diese wurzeln regelmäßig in konkreten Tatsachen und Vorgängen,
in denen eine Verletzung rechtlich geschützter Interessen zum Ausdruck
kommt, sei es, dab die Verletzung in einem rechtswidrigen Verhalten inner-
halb eines durch Rechtsgeschäft (Vertrag) oder in anderer Art begründeten
Rechtsverhältnisses besteht, oder das aktive bezw. passive Verhalten eines
Staates eine Negierung erworbener und völkerrechtlich geschützter Rechte
oder der völkerrechtlichen Persönlichkeit und ihrer freien Betätigung inner-
halb der internationalen Gemeinschaft bedeutet. Derlei Streitfälle sind in der
Regel so beschaffen, daß deren Tatbestand, dessen Widerstreit mit den an-
erkannten Norınen des Völkerrechts und das Maß des Eingriffes in die fremde
Rechtsphäre eine klare Festellung und sohin eine sachgemäße rechtliche
Beurteilung zulassen. Diese Eigenschaften fehlen den rein politischen Konflikten.
Die heutige Rechtskultur hat noch nicht einen Zustand der Koexistenz der
Staaten herbeigeführt, in welchem Konflikte ausgeschlossen sind, die nicht auf
einer wirklichen Kollision rechtlich geschützter Interessen beruhen. Die
Eigenart der politischen Konflikte bringt es nun mit sich, daß hier eine
rechtliche Erledigung Schwierigkeiten begegnet, während die rechtlichen
Konflikte einer solchen Erledigung regelmäßig zugänglich sind. Der fried-
lichen Erledigung sind allerdings auch die politischen Konflikte zugänglich;
gegenüber früheren Epochen zeigt die neuere Geschichte einen erheblichen
Fortschritt darin, daß mit der Überzeugung von dem Werte des Friedens für
die Bedingungen des eigenen Wohles die Achtung vor der Geltung des Rechts
für den Verkehr der Staaten und ihre Streitigkeiten stetig zunimint,
Die theoretische Richtigkeit der Unterscheidung rechtlicher und politischer
Streitigkeiten wird kaum bestritten werden können; dagegen wird neuestens vom Standpunkte
der modernen Praxis diese Unterscheidung von Nippold?) abgelehnt und darauf hinge-
wiesen, daß die überwiegende Mehrzahl aller Streitigkeiten ein gemeinsames formales
Merkmal aufweise: jeder Streit lasse sich auf irgend welche rechtliche Momente zurück-
führen. Kein moderner Kulturstaat, der sich zugleich auch als Rechtsstaat fühlt, werde
mit einem anderen in Streit geraten, ohne daß irgend ein rechtliches Interesse vorhanden
1) Soweit nicht Retorsion Abhilfe bietet, wirkt die zumeist zurückbleibende Verstim-
mung auf das gegenseitige Verhalten bei begründeten Anlässen zur Beschwerde oder ver-
mehrt jene imponderablen Elemente eines Gegensatzes und künftigen Konflikts.
2) Nippold, Die Fortbildung u. s. w. 135 ff.