87. Verhältnis des Völkerrechts zu verwandten Materien. 37
Moral in dem Verhalten der Staaten und Völker neben und gegenüber den
Normen des Völkerrechts zukommt. Diese Frage weist zwei Seiten auf, in-
sofern das Verhalten der Völker zu einander einerseits in der auswärtigen
Politik der Regierungen und anderseits in rechtlich maßgebenden Willens-
akten der Völker selbst bezw. ihrer verfassungsmäßigen Repräsentanten (inso-
weit diese namentlich in den heutigen Repräsentativstaaten in der Lage sind,
in internationalen Angelegenheiten ihre Stimme zur Geltung zu bringen) zum
Ausdruck kommt. Nach der einen und der anderen Seite ist bei zivilisierten
Völkern die Geltung der Normen der Moral auch in staatlichen Angelegen-
heiten anerkannt. Die Forderungen der sittlichen Weltordnung kennen keinen
Unterschied des Umfangs der Geltung meralischer Imperative: diese binden
die Einzelperson in allen Lebenslagen gleichmäßig; daher gilt für den Staats-
mann keine doppelte Moral — eine Privatmoral und Staatsmoral'!); ebenso-
wenig für das Volk, da die Stimme des Volksgewissens nur der Widerhall
der Stimme des Gewissens der Einzelnen sein kann. Politische Leidenschaft
und Konflikte zwischen den Anforderungen der Moral und dem (wirklichen
oder eingebildeten) Nutzen politischer Aktionen können die Stimme des Volks-
gewissens unterdrücken, aber niemals die sittliche Verschuldung und Verant-
wortlichkeit aufheben. 2)
III. Völkerrecht und Politik.?) Die Stellung, welche das praktische
Verhalten des Staatsmanns in inneren und auswärtigen Angelegenheiten ein-
zunehmen hat, kann bei sachgemäßer Auffassung des realen Verhältnisses von
Recht und politischem Handeln kaum zweifelhaft sein. Es wäre eine totale
Verkennung der Bedeutung der Rechtsordnung, wollte man dem Gedanken
Raum geben, daß es unter dem Einfluß der täglich im Staatsleben hervor-
tretenden Interessenfragen zulässig sei, für das politische Handeln — die
Politik — Maximen zur Geltung zn bringen, welche dem geltenden Rechıt zu-
widerlaufen. Der Staatsmann hat seine Aufgaben auf dem Boden und im
Geiste des geltenden Rechts zu lösen — abgesehen davon, daß seine primäre
Aufgabe gerade darin bestehen wird, die rechtliche Grundlage der Geltung
und Behauptung der Interessen seines Staats dnrch entsprechende politische
Handlungen zu sichern und zu schützen. Augenblickliche Vorteile, die der
Staatsmann durch kluge Ausnutzung einer Situation auf Kosten des Rechts
1) Dio Selbständigkeit der Politik gegenüber der Moral kann niemals eine Trennung
des politischen Handelns von den Grundsätzen der Moral bedeuten. Die Verleugnung der
Gebote der Moral in der politischen Praxis kam allerdings zu allen Zeiten vor; als poli-
tisches Prinzip wurde sie in theoretischer Allgemeinheit erst von Macchiavelli aus-
gesprochen.
2) Mit Recht macht v. Holtzendorf, HH IS. 60, 61 auf das „Schuldbewußtsein“, die
„Gesamtschuld“ der „Völkerversündigung“ aufmerksam.
3) Schmelzing, Über das Verhältnis des sog. Naturrechts zum positiven Recht, zur
Moral und Politik (1813); Bluntschli, Politik (1876); v. Holtzendorff, Prinzipien der Politik
(2. Aufl.) S. 219 ff. (franz, Übersetzung von Lehr) und HH IS. 64ff.; Montague Bernard,
Four leetures on diplomacy (1568); v. Bulmerineq, Revue de dr. intern. IX 8. 361 sq ;
F. v. Martens 1S.1856: Geffcken in „Nord und Süd“ XI S.321f.: Funck-Brentano,
Ja politique (1893): Leseur, Introduction p. 50 sq.