454 Achtes Buch. Die intern. Streitigkeiten u. deren Erledigung cte. 81T.
gangs, der zum Streit geführt hat, auf Einsetzung einer Untersuchungskommission, die aus
fünf höheren Marineoffizieren (je einem englischen, russischen, amerikanischen, französischen
und österreichischen) bestand und in Paris im Februar 1905 zur Lösung ihrer Aufgabe zu-
sammengetreten war. Der Bericht 3 ist insofern von besonderem Interesse, als er die
Auffassung der Aufgabe seitens der Kommission deutlich erkennen läßt. Der Bericht be-
schränkt sich nämlich nicht auf die Feststellung äußerer Tatsachen, die in ihrem Komplex
den Tatbestand jenes Vorgangs bilden, aus dem der Streitfall entstanden ist. Die unpartei-
ische und gewissenhafte Prüfung der Tatfragen (Art. 9 FA) umfaßt auch die mit jenem Vor-
gang verknüpfte Schuldfrage. Nach der Feststellung des ganzen Vorgangs wird in dem Be-
richte besonders betont, dal die Tatsachen nicht geeignet seien, ein ungünstiges Urteil (de-
consideration, in der englischen Übersetzung diseredit) auf die militärischen Eigenschaften
und die Humanität des russischen Admirala Rojdestvensky oder das Personal seiner Flotte
zu werfen. Gerade dieser Punkt des Berichts bestimmte die englische Regierung, nicht weiter
auf der Bestrafung des Admirals zu bestehen. In dem zwischeu den Streitteilen abge-
schlossenen Abkommen verpflichtete sich Rußland zur Zahlung von 65000 £ zum Zwecke
der Schadloshaltung der Opfer des Zwischenfalls und der Familien der zwei getöteten Fischer.
$ 159. B. Die Selbsthilfe. I. Nichtkriegerische Mittel der Selbst-
hilfe. 1. Die Retorsion ')., I. Die Interessen Verkehr pflegender Staaten
und ihrer Angehörigen können in verschiedener Weise durch das Verhalten
eines Staates bezw. seiner Organe berührt werden. Es kann eine empfindliche
Schädigung oder mindestens Gefährdung der Interessen eines Staates oder
seiner Angehörigen auch durch die im übrigen vom Standpunkte des strengen
Rechts durchaus unanfechtbare (formell legitime) Betätigung des souveränen
Willens eines anderen Staates auf dem Gebiete der Gesetzgebung, Rechts-
pflege oder der Verwaltung bewirkt werden. Gegen ein Vorgelien solcher
Art, das der davon betroffene Staat als eine Unbilligkeit2) empfindet, übt der
verletzte Staat durch Retorsion in den Schranken der Wiedervergeltung
oder Talion einen Zwang aus, indem er in analogen Verhältnissen gegen den
Urheber der Unbilligkeit usw. ein gleiches oder ähnliches Verhalten beobachtet.
In negativer Richtung kann das Retorsion veranlassende Verhalten dahin charakteri-
siert werden, daß cs sich niemals als Delikt im völkerrechtlichen Sinne darstellt; im übrigen
lassen sich positive Merkmale nicht fixieren, daher in Doktrin und Praxis manche Zweifel
obwalten. Zunächst wird der Anlaß zur Retorsion darin gefunden, daß den Angchörigen
eines Staats Belästigungen °’) auferlegt oder der Genuß von Vorteilen entzogen wird, Aus-
1) Berner in Bluntschlis Staatswörterbuch s. v. Repressalien u. Retorsion; v. Bul-
merineg HR IV, 59ff.; Heffter-Geffeken $8$ lei—111; Bluntschli, $$ 499—509;
F. v. Martens Il, 469 ff.; Gareis, $ 77; v. Liszt $ 38; Rivier, Lehrb. $59; Despagnet,
Cours 5isq.; Travers Twiss, I, 185 sq.; Calvo, $$ 1807 sq.; Bonfils $ 972; Oppen-
heim Il, $$ 29—32.
2) Vgl. Geffcken zu Heffter $ 110; Phillimore Ill, 16 sq. bezeichnet die Retorsion
als cine Remedur gegen Abweichungen von der comitas; siche dagegen v. Bulmerincq
HH IV, 59 ff., der mit den Meisten das die Retorsionrcechtfertigende Verhalten eines Staates
als Unbilligkeit auffaßt. Anders Gareis a. a.0. — Vielfach wird die Retorsion unter die
Repressalien subsumiert. Indessen sind doch dogmatische Momente vorhanden, welche die
Festhaltung der Unterscheidung dieser beiden Zwangsmittel rechtfertigen, so vor allem der
Uınnstand, daß die Voraussetzung der Retorsion der Mangel eines völkerrechtlich deliktischen
Verhaltens ist, während die Repressalien gerade an solches Verhalten anknüpfen. Vgl im
übrigen Wagner, Zur Lehre von den Streiterledigungsmitteln u. s. w. 53 ff.; Heilborn,
System 552 ff.; auch Oppenheim U, 32 hält an dem Unterschiede fest.
3) z. B. Verschärfung des Paßzwanes.