Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

456 Achtes Buch. Die intern. Streitigkeiten u. deren Erledigung etc. g 1m, 
  
  
  
$ 160. 2. Repressalien.!) I. Die Anwendung von Repressalien hat 
allemal ein völkerrechtlich deliktisches Verhalten eines Staates zur Voraus- 
setzung. Auch dieses Zwangsmittel findet erst dann Anwendung, wenn die 
Rechtsverletzung nicht im Wege diplomatischer Verhandlung beseitigt und in 
ihren Wirkungen aufgeloben werden konnte. Es besteht in gewalttätigen 
Handlungen, die objektiv selbst auch den Charakter völkerrechtlich delikti- 
schen Handelns an sich tragen, aber im Hinblick auf den Anlaß ihrer Unter- 
nelımung völkerrechtlich als legitimer Zwang anerkannt sind, von dem der 
verletzte Staat Gebrauch macht, um sich Genugtuung wegen des erlittenen 
Unrechts und Ersatz des etwa verursachten Schadens zu verschaffen. 
Trägt die zu solehen Zweck unternommene Zwangsmaßregel denselben Charakter, wie 
das Verhalten des Gegners. so liegt allerdings reine Wiedervergeltung vor, olıne daß jedoch 
um deswillen ein solcher Vorgang auch technisch als Retorsion behandelt werden müßte, da 
er sich doch durch das spezifische Moment der Erwiderung deliktischen Verhaltens mit 
einem gleichfalls den Tatbestand einer völkerrechtswidrigen Handlung bildenden Zwang von 
den Retorsionshandlungen unterscheidet. Die Unmöglichkeit, auf friedlichem Wege zum Ziele 
zu gelangen, nötigt den verletzten Staat zur Anwendung von Selbsthilfe, wobei er nicht so- 
fort zu dem äußersten Mittel greift, sondern sich auf die Anwendung eines nichtkriererischen 
beschränkt. Als Anwendung von Zwangsgewalt (die in früheren Epochen vielfach zu MiB- 
bräuchen führte) stehen die Repressalien in Friedenszeiten zweifellos nicht in Einklanz mit 
dem Grundgedanken der neuesten Eutwicklung des Völkerrechtse, das von dem Streben nor- 
maler Erledigung von Streitfällen durch wesentlich friedliche Mittel beherrscht ist — ein 
Streben, das in den Instituten der Haager Konventionen von 1899 und 1907 zu positivrecht- 
lichem Ausdruck gekommen ist. Der moralische Zwang, der in der kollektiven Ausbildung 
dieser Institute zweifellos liegt, dürfte in der Zukunft den Gebrauch auch der Repressalien 
wohl einigermaßen einschränken.?) Eine Beseitigung dieses Mittels kann aber nicht in 
Aussicht genommen werden; insbesondere würden Repressalien im Kriege gegenüber 
einem skrupellosen Feind niemals entbehrlich sein. 
II. Die Anwendbarkeit der Repressalien kann durch irgend ein delik- 
tisches Verhalten eines Staates veranlaßt sein. ?) 
III. Nach heutigem Recht kann die Anordnung von Repressalien nur 
von dem Staat bezw. dessen höchsten Organ ausgehen.) 
1) Wurm in Rottecks Staatslexikon s. v. „Völkerrechtliche Selbsthilfe.“ Berner in 
Bluntschlis Staatsw. s. v. „Repressalien“; v. Bulmerincg in HRL se. v. „Repressalien“ u. HH 
V, 72ff.; Heffter-Geffcken $ 110; F. v. Martens Il, 46Sff.; Gareis $ 78; v. Liszt & ®®: 
Rivier, Lehrb. $ 59: Heilborn HKRE, 1053; Calvo $$ 1809 ay.; Mas Latrie, Druit des 
marque ou droit de represailles au moyen äge (1866); Lafargue, Les röpr. en temps de paıx 
(1899); Ducrocg, Repr. en temps de paix (1901); Bonfils p. 975 sq.; Travers Twiss, The 
law of nations II, 20 sq.; Oppenheim II $$ 33 sq. 2) Gleicher Meinung Oppenheim II, $ 43. 
3) So insbesondere durch Beleidigung des Staates, acines Oberhauptes oder eines an- 
deren den Staat bezw. sein oberstes Organ vertretenden llilfsorgans, in der Nichterfüllung 
vertragsmäßiger Verbindlichkeiten (z. B. der Nichtbezahlung einer Geldschuld) oder sonstigem 
vertragswidrigem Verhalten (siehe den lehrreichen Fall dieser Art bei Oppenheim I, 8 34), 
ferner durch Justizverweigerung und Justizveizögerung, durch Verletzung der Gebietshoheit 
und andere völkerrechtlich rechtswidrige Handlungen. Rechtswidrige Handlungen staatlicher 
(Zivil- oder Militär-) Organe oder der Staatsangehörigen (oder der (sebietshoheit unterworfenen 
Personen) rechtfertigen die Anwendung von Repressalien nur dann, wenn die Staatsgewalt 
die verletzende Handlung veranlaßt oder gebilligt hat oder sich weigert, den Urheber der 
Verletzung zur Verantwortung zu ziehen, bez. zum Schadenersatz zu verhalten. 
4) Vgl. Oppenheim II $:35 und den daselbst angeführten Fall des britischen Untertans 
Don Pacifico (aus d. J. 1947). Näheres über diesen Fall bei Martens, Causes eclcbres V. 395 34. 
 
	        
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