42 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 88.
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Schaffung von allgemeinen völkerrechtlichen Normen !) blieb einer höheren
Stufe der Entwicklung des Völkerverkehrs und rechtlicher Kultur der Völker
vorbehalten, einer Zeit, in der die Idee der internationalen Gemein-
schaft in das Bewußtsein der Kulturvölker getreten und als Konsequenz
dieser Idee die wichtige Aufgabe erkannt war, durch bewußte und spontane
internationale, Recht schaffende Akte für die Klärung und Sicherung des
rechtlichen Zustands unter den Völkern und Staaten zu sorgen. Die Grund-
lagen für die Duplizität der Rechtsbildung im Völkerverkehr — durch Ge-
wohnheit und Verträge — sind also nicht schon ursprünglich vorhanden ge-
wesen, sondern selbst erst das Resultat der Entwicklung der allgemeinen
Kulturverhältnisse und der Rechtskultur der Völker.
Die Bildung von Gewohnheitsrecht?) im Völkerverkehr ist wie in an-
deren Rechtsgebieten das Ergebnis bestimmter psychologischer und äußerer
Vorgänge; handelt es sich doch um die Bildung objektiven Rechts durch
die Gewohnheit, also in letzter Reihe um die Bekundung rechtlich maß-
gebenden Willens, der im äußeren Leben in Handlungen zu Tage tritt.
Handlungen, in denen sich der Gedanke einer Regel des Verhaltens der Be-
teiligten kundgibt 3), sind zugleich das Mittel der praktischen Bewährung be-
treffender rechtlicher Gedanken und Anschauungen als verpflichtender*)
Regeln. Diese Wirkung kann aber nur durch die konstante und überein-
stimmende Beobachtung einer Regel herbeigeführt werden; Ubung, Herkommen
vermitteln die Umgestaltung der in den einzelnen konkludenten Handlungen
zum Ausdruck kommenden Überzeugung von der Notwendigkeit eines be-
stimmten Verhaltens in objektiven Willen, der eben in der konstanten und
übereinstimmenden Beobachtnng betreffender Regeln sich ausprägt.
Die Bildung von Gewohnheiten im Völkerverkehr beschränkt sich natur-
gemäß in ihren Anfängen immer auf wenige Staaten; sie verharrt sodann in
diesem engeren Bereich oder erweitert sich zu einer allgemeinen Gewohnheit.
Nur diese bildet einen Bestandteil der Völkerrechtsnormen. So hatten z. B.
die Gewohnheiten der seefahrenden Staaten des Mittelalters ein eng begrenztes
Gebiet ihrer Entstehung. Die analogen Bedürfnisse anderer Nationen und
vor allem die in der Hauptsache allenthalben gleichartigen Tatbestände des
‚Seeverkehrs haben frühzeitig zur Rezeption jener Gewohnlieiten auch bei an-
Staaten verbunden sind. Ohne diesen primären rechtlichen Grundgedanken könnte die Bildung
von Gewohnheitsrecht wohl kaum in Fluß kommen.
1) Es ist hier selbstverständlich nur an jene Verträge gedacht, die sich nicht auf die
Regelung konkreter Verhältnisse zweier oder mehrerer Staaten beziehen, von denen schon früh-
zeitig unter den Völkern Gebrauch gemacht wird, sondern die als Quellen allgemeiner Völker-
rechtsnormen in Betracht kommen.
2) Vgl. im allgemeinen von Neueren Zitelmann, Arch. f. d. civilist. Praxis 1683,
S. 323 ff.; Regelsberger, Pandckten S. 93 ff.: ferner Schuppe, Das Gewohnheitsrecht (1890)
und dazu die kritischen Ausführungen von Merkel in Philosoph. Monatshefte XXVII, S. 193 ff.;
Cavaglieri, Il diritto intern. consuetudinario (1907).
3) Daher konkludente Handlungen.
4) Vgl. Merkel, Jurist. Enzyklopädie $ 113 und die Ausführungen zu $ 114 (insbes.
S. 67 unten).