88. Quellen des Völkerrechts. 43
deren Völkern geführt. !) Gleichartige Gewohnheiten haben sich ferner früh-
zeitig für die Kriegsführung ausgebildet und allmählich allgemeine Anerken-
nung bei den zivilisierten Völkern erlangt.) — Das Ergebnis solcher Ge-
wohnheiten, die sich auf Gegenstände und Verhältnisse beziehen, die ihrer
Natur nach dem Wandel nicht unterworfen sind und folgemäßig einen bleiben-
den Bestandteil der rechtlichen Anschauungen der zivilisierten Völker bilden, ist
in neuerer Zeit vielfach in Verträgen formell bekräftigt und klargestellt worden.
Allgemeine Gewohnheiten verpflichten als Bestandteil des positiven
Völkerrechts auch jene Staaten, die an der Bildung derselben nicht beteiligt
sind; das in der Gewohnheit zum Ausdruck gebrachte Rechtsbewußtsein der
Völker beansprucht Anerkennung seitens jedes Staats, der als Glied der inter-
nationalen Gemeinschaft gelten will.
Als unmittelbarer Ausdruck des Rechtsbewußtseins der Völker ist das
Gewolhnheitsrecht den Umbildungen und Wandlungen des Inhalts des Rechts-
bewußtseins unterworfen: Gewohnheiten können durch anderweite Gewohn-
heiten verdrängt werden; auch kann eine Gewohnheit durch desuetudo er-
löschen. Auch vertragsmäßig fixiertes Recht wird durch eine vom inter-
nationalen Rechtsbewußtsein beherrschte Gewohnheit beseitigt werden, da eine
Geltendmachung von Rechten, denen die Sanktion des herrschenden Rechts-
bewußtseins fehlt, ausgeschlossen ist. ?)
In der Gewohnheit als Quelle des Völkerrechts bekundet sich die Rechts-
überzeugung der Staaten als Subjekte des Völkerrechts. Betreffende Hand-
lungen, die als Recht bildende Gewohnheit hier einzig in Betracht kommen
können, sind daher allemal Handlungen der Staaten bezw. der zur Aus-
übung der Hoheitsrechte des Staats verfassungsmäßig berufenen Organe der
Staaten. Außer der Staatsregierung und den Gerichten kommen im modernen
Repräsentativstaat auch die parlamentarischen Vertretungskörper in die Lage,
in internationalen Angelegenheiten ihrer Rechtsüberzeugung Ausdruck zu
1) Jene Seerechtsgewohnheiten wurden im Mittelalter in Rechtsbüchern zusammen -
gefaßt und zwar vornehmlich in drei Scegebieten. (Vgl. Perels, Das internationale Öffent-
liche Seerecht (1903) S. 4ff.. Für das Gebiet des mittelländischen Meeres bezw. die sce-
fahrenden Mittelmeerstaaten sind die Scerechtsnormen zusammengestellt in dem Consolato
del mare. (Das Rechtsbuch ist vermutlich im 13. oder 14. Jahrhundert entstanden. Über
die Entstehung und andere auf das Rechtsbuch bezügliche historisch-kritische Fragen siehe
neuestens Schaube, Neue Beiträge zur Geschichte des Consolato del mare. Prograum des
Gymnasiums zu Brieg 1890,91; Derselbe in Schmoller’s staats- und sozialwissenschaft-
lichen Forschungen VIII. Heft S. 2). Die Scerechtsregeln für das Gebiet des atlantischen
Meeres sind in den Röles d’Oleron enthalten; sie ‚bilden die Grundlage des neueren fran-
zösischen und englischen Scerechts. Einen diplomatischen Abdruck dieses Rechtsbuchs nebst
deutscher Übersetzung, Einleitung, Glossar und einer Handschriftenprobe hat Zeller unter
dem Titel: Das Seerecht von Oleron nach der Handschrift Troyes (1356) im Jahre 1906
veröffentlicht. Innerhalb des Scegebiets der Nord- und Ostsee bildet das Scerecht von
Wisby die Grundlage der deutschen und skandinavischen Seerechte. — Bezüglich der älteren
Seerechtsquellen im ganzen vgl. Pardessus, Collection des lois maritimes 1.
2) Vgl. v. Holtzendorff, HH I S.9.
3) Über die Zweifel, welche die Berufung auf desuetudo gegenüber geschriebenem Recht
hervorrufen kann, siehe Despagnet, Cours. p. 65, 66.