8190. Die Neutralität. 515
schied der Kriegführenden und der an dem Kriege nicht beteiligten Staaten,
für die der kriegerische Vorgang eine fremde Angelegenheit bildet, der gegen-
über sie die Stellung eines unparteiischen Dritten in Anspruch nehmen. In-
dessen, dieser durch die Natur des Krieges gegebene Unterschied betrifft an
sich nur den Tatbestand, welcher die Voraussetzung des Neutralitäts-
begriffes bildet; dieser selbst ist (als Bestandteil des Völkerrechts) vielmehr
das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung, die sich erst auf dem Boden
der internationalen Gemeinschaft und der Ausbildung des Völkerrechts, ins-
besondere des Kriegsrechts, vollziehen konnte. Erst auf diesem Boden sind
rechtlich geordnete Beziehungen der Staaten überhaupt und die Möglichkeit
gegeben, auch das Verhältnis der an einem Kriege Nichtbeteiligten zu den
Kriegführenden einer rechtlichen Ordnung zu unterziehen und den Begriff der
Neutralität als Rechtsbegriff auszubilden.
Der heutige Begriff der Neutralität ist das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses,
der sich lange Zeit hindurch als ein Kampf der Interessen der Kriegführenden einerseits und
der an dem Streit nicht beteiligten Staaten andererseits darstellt; auf beiden Seiten machte sich
eine willkürliche Betätigung der eigenen Interessen geltend, so daß sich tatsächlich der Kreis
der Kriegführenden über die Streitteile erweiterte und der Kampf eine Ausdehnung gewann,
die in dem Anlaß zum Kriege keineswegs begründet war. Die Heranziehung der Nicht-
beteiligten zum Kriege war die Folge der Zwangslage, in welche sie von den Kriegführenden
versetzt wurden, nicht selten aber auch das Ergebnis der Parteinahme für einen der Kriegsteile.
Im Altertum wird der Wille eines Staates, an einem Kriege sich nicht zu beteiligen, von dem
Kriegführenden nicht anerkannt; ebenso wenig im Mittelalter: es „galten bei einem Kriege
zwiscben zwei Staaten die übrigen als Freunde oder Feinde“.!) Als die Anfänge einer An-
erkennung des Neutralitätszustandes hervortraten, war eine klare Begrenzung der Rechte und
Pflichten der Kriegführenden und Neutralen noch ausgeschlossen. Die Ausbildung des Rechts-
verhältnisses war einer späteren Zeit vorbehalten; inzwischen machte sich derdem Neutralitätsrecht
zu Grunde liegende Gedanke teils tatsächlich dadurch geltend, daß die Kriegführenden und Nicht-
beteiligten dem Gebote der Klugheit folgten und sich selbst Beschränkungen auferlegten, teils
dadurch, daß man sich in Verträgen versprach, daß keiner der Kontrahenten dem Feinde des
andern irgend welche Kriegshilfe leisten wolle. Noch bei Grotius kommt der Begriff der
Neutralität zu keiner klaren Ausprägung, indem er die Nichtbeteiligten lediglich gegenüber
jenem Kriegsteile zu passivem Verhalten für verpflichtet hält, der für eine ungerechte Sache
kämpft; dagegen hat Bynkershoek sich gegen jeden Zusammenhang der Neutralität mit der
Gerechtigkeit des Krieges ausgespruchen (Quaest. jur. publ. I, 9. Im ganzen brach sich der
Neutralitätsgedanke im Landkriege früher als im Seekriege Bahn; im 17. und auch noch im
System S. 309; Heilborn, System S. 321ff.; Gessner, Les droits des neutres sur mer (1865.
1876); Hautefeuille, Des droits et des devoirs des nations neutres (3 Bde., 3. Ausg. 1868);
Cauchy, Le droit maritime interne (1662); Boeck, De la propriet6 priv&e ennemie rous pa-
villon ennemi (1582); Pillet, Les Lois et usages etc. 273 sq.; Dupuis, Le droit de la guerre
maritime etc. Nr. 302sq.; Descamps, Le droit de la paix et de la guerre etc. (1898);
Fauchille, La diplom. franc. et la ligue des neutres (1993); Hall, The rigths and duties of
neutrals (1874); Holland R VII (2. S.) 359sq.; Oppenheim H, $$ 2S5sq.; Schiatarella,
Il diritto della neutralitä nelle guerre maritime (1877); Kleen, Neutralitetens Lagar (1889 bis
1891); Derselbe, Lois et usages de la Neutralite I (1898), II (1900); Sydney-Schopfer,
Le principe juridique de la neutralit€ et son Evolution dans ’histoire du droit de la guerre
(1894). — Über Neutralität im allgemeinen enthält Bemerkenswertes auch Schweizer, Ge-
schichte der schweizerischen Neutralität (1595).
1) Vgl. über die geschichtliche Entwicklung der Neutralität Geffeken, HH IV S. 605
614 ff.; siehe auch F. v. Martens, II S. 550. Neuestens Kleen, Lois et usages I, p. 1 sg.
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