88. Quellen des Völkerrechts. 47
Willenserklärungen schaffen die Kontrahenten gemeinsames Recht bezw. voll-
zieht sich der Akt internationaler Rechtssetzung.!) Aus der Existenz des
so geschaffenen objektiven Rechts entspringt für die Kontrahenten die Pflicht,
die betreffenden Normen zu befolgen. Die Befolgung der vereinbarten Normen
ist aber praktisch bedingt durch das diesen Normen entsprechende Verhalten
der Organe des Staats als der Vollstrecker seines Willens, und der Unter-
tanen. Während nun die Verpflichtung des Staats zur Befolgung völker-
rechtlicher Normen unmittelbar aus diesen als völkerrechtlichen Normen
fließt, beruht die Verpflichtung der staatlichen Organe und der Untertanen
auf einem staatsrechtlichen Titel — dem Befolgungsbefehl, Gesetz, Ver-
ordnung u. Ss. w., — mittels dessen die völkerrechtliche Norm nun auch ein Be-
standteil der nationalen Rechtsordnung wird.?2) Das hier augenscheinlich in
den Vordergrund tretende Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht
ist also folgendermaßen aufzufassen: es handelt sich hier um zwei verschiedene
rechtliche Imperative; der eine ruht auf der Selbstbeschränkung des Willens
der Staaten als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft und richtet sich
an die Einzelstaaten; der zweite (innere) richtet sich an die Staatsbehörden
und die Untertanen. Der zweite Imperativ, mag er auch nur die strikte Aus-
führung des ersten sein, ist innerstaatliches (nationales) Recht, nicht
Völkerrecht. Der Staat allein setzt es, wenn er es auch auf Grund völker-
rechtlicher Verpflichtung setzt. Ohne den Akt innerstaatlicher Normsetzung
würde der völkerrechtliche Imperativ ohne praktische Bedeutung bleiben.
Der völkerrechtliche Imperativ kann eben nur durch das Medium der inner-
staatlichen Funktionen rechtlich und praktisch wirksam werden. 3) Indessen,
die durch derlei Verträge sich vollziehende Objektivierung des Willens der
Kontrahenten bedeutet keine Trennung des letzteren von dem Vertrage als
dem Entstehungsgrunde der Verpflichtung zur Befolgung der vereinbarten
Normen. Gerade so wie der Träger der Staatsgewalt (im Rechtsstaate)
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1) Mit Recht bemerkt Nippold, Der völkerrechtliche Vertrag S. 31, daß das Nicht-
vorhandensein völkerrechtlicher Gesetze ebensowenig einen Mangel bedeutet, wie das
Nichtvorhandensein innerstaatlicher Verträge als Kechtspuelle einen Mangel für das inner-
staatliche Recht bedeutet.
2) Näheres darüber in der Lehre von den Staatsverträgen. Hier möge nur bemerkt
werden, daß diese subsequente Erscheinung — die Verpflichtung der staatlichen Organe und
Untertanen, die Art und Weise, wie diese Wirkung herbeigeführt wird und wodurch der
Bestand des objektiven (nationalen) Rechts erweitert wird, — ein Argument für die Möglich-
keit von objektivem, durch Vertrag geschaffenem Recht bildet, denn jener staaterechtliche
Vorgang, der mit der Publikation von Staatsverträgen in den Ländern der Kontrahenten ver-
knüpft ist, bedeutet doch niemals einen staatsrechtlich bedeutsamen Rechtssetzungsakt, son-
dern setzt denselben voraus. Die durch den Staatsvertrag gegebene, also schon vorhandene
Norm, erlangt durch den staatsrechtlichen Befolgungsbefehl auch noch die Bedeutung cines
Staatsgesetzes.
3) In dieser Beziehung sei zur Exemplifizierung auf die Antisklavereiakte vom
2. Juli 1890 (bei Fleischmann, 226) und die in Vollziehung dieser Akte in den
Ländern der Signatare erlassenen Strafgesetze verwiesen. Ein anderes interessan-
tes Beispiel bieten die Beschlüsse der Pariser Konferenz vom Jahre 1902 (15.—25. Juli) be-
treffend die strafrechtlichen Mittel der Bekämpfung des Frauenhandels. Das Ergebnis ist in