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durch Verträge geschaffenen Rechtssätzen hervor (s. oben S. 47). Den
völkerrechtlichen Gewohnheiten gegenüber ist an dem Recht der Gerichte,
die Existenz derselben zu prüfen, festzuhalten, wobei der Inhalt betreffiender
Landesgesetze unter Umständen eine wertvolle Erkenntnisquelle bieten
wird. !)
IL Gerichtliche Entscheidungen, die auf der Anwendung von
Völkerrechtssätzen beruhen, sind auch als Erkenntnismittel von Völkerrechts-
sätzen zu verwerten?). Die materielle Autorität, die den Entscheidungen
namentlich solcher Gerichte innewohnt, die eine reiche Praxis und alte
Tradition (z. B. in Prisensachen) aufweisen, darf bei dem Nachweis der
praktischen Geltung von Völkerrechtssätzen nicht übersehen werden —
namentlich dann nicht, wenn die Entscheidung Ansprüche des Staates, in
dessen Namen das Gericht judiziert, nicht anerkannt hat?).
$ 10. Geltungsgebiet des Völkerrechts.*) I. Auf dem Boden der
hier vertretenen Auffassung des Völkerrechts als positiven Bechts kann die
Frage des Umfangs der Geltung des Völkerrechts nur mit Rücksicht auf das von
den Verkehr pflegenden Staaten geschaffene und in seinen Verkehrsbeziehungen
praktisch anerkannte Recht aufgeworfen werden. Die Anhänger der älteren
dualistischen Auffassung beantworten die Frage in verschiedenem Sinn, ein-
mal bezüglich des sogen. natürlichen oder rationellen Völkerrechts, dem sie
allgemeine, die ganze Menschheit umfassende Geltung vindizieren und dann
bezüglich des positiven Völkerrechts. Es wird ferner noch neuestens5) dem
eigentlichen (positiven) Völkerrecht ein gemeinsames Recht der Menschheit
gegenübergestellt — eine Anschauung, die auf wesentlich naturrechtlicher
Grundlage ruht.
Dem Völkerrecht liegt allerdings die Idee eines die Gesamtheit der
staatlich organisierten Völker des Erdballes umfassenden Rechts zugrunde.
Allein die Verwirklichung dieser Idee vollzog sich ursprünglich mit innerer
Notwendigkeit nur im Bereich jener Staaten und Völker, in deren geistigem
und politischem Leben die Idee eines über die Grenzen des nationalen Rechts
hinausgreifenden, verschiedene Einzelstaaten verpflichtenden Rechts hervor-
getreten ist. Und dies war im Hinblick auf die ethischen Grundlagen alles
1) Vgl. im ganzen neuestens Oppenheim I 88 21 sa.
2) So ist z. B. das Schiedsgericht in der Behringsmeer - Affäre bezüglich der Aus-
dehnung des Territorialmeers von der Drei - Meilen - Grenze ausgegangen. Siehe die Nit-
teilungen des französischen und des schwedisch-norwegischen Bevollmächtigten (de Courcel
und Gram) an die mit der Frage des Territorialmeeres befaßte Kommission des Instituts für
internationales Recht im Annuaire de l’Institut du dr. int. XIII p. 252, 283.
3: So macht Perels, Intern. öff. Seerecht 2. Aufl. $S. 9 auf die Bedeutung der geistvollen
Ausspräche Sir William Scott’s und des amerikanischen Prisenrichters Story aufmerksam,
warnt aber zugleich vor der Überschätzung gerichtlicher Entscheidungen. Siehe auch Bul-
merincq, Commission des prises maritimes (1860) p. 214, 215.
4) Heffter-Geffcken, 8. 7; v. Martens, 1,8. 41; Holtzendorff HH I], 13 ff.;
Gareis, $ 10; v. Lißt, $1; Nys, I, p. 116 sq.; Rivier, Prineipes I, $ 1; Bonfils, Xr.
40 8q.; Westlake I, 40 sy.; Oppenheim, I, & 26 2q.
5) Pillet RG I, 13 sq.