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Rechts wieder nur möglich bei Völkern, deren sittliche und religiöse An-
schauungen, deren Kultur und Zivilisation einen homogenen Charakter auf-
weisen. Dabei ist übrigens zu beachten, daß nicht die Höhe der Zivilisation
und auch nicht deren Gemeinsamkeit oder Ahnlichkeit für sich allein ein
Völkerrecht zu erzeugen vermochten; dies zeigt sich klar bei den Völkern
des klassischen Altertums und den Völkern des asiatischen Ostens. Die
individual- und völkerphychologischen kausalen Faktoren der Möglichkeit des
Völkerrechts und seiner Geltung liegen in der Tat in erster Reihe im Bereich
jener ethischen Grundlagen und hier wieder in einem durchaus spezifischen
Inhalt derselben, der geschichtlich von dem Inhalt der religiösen Grundan-
schauungen beeinflußt ist. So ist es, wie schon oben hervorgehoben worden,
durchaus verständlich, daß die Idee des Völkerrechts nur bei den Völkern
christlicher Weltanschauung ihre Verwirklichung finden konnte. Das Völker-
recht tritt in der Tat als Völkerrecht der christlichen Staaten in die Ge-
schichte der Menschheit ein. Die Macht der ethischen Grundlagen dieses
christlichen Völkerrechts mußte ihm in erster Linie die Ausdehnung seiner
Wirksamkeit überall da sichern, wo christliche Völker im Wege der Koloni-
sation ihre politische Herrschaft zu befestigen wußten; das Völkerrecht, das
zunächst unter den Völkern des christlichen Europa entstanden war, gelangte
auch in fremden Weltteilen zur Herrschaft und hörte im topographischen
Sinne auf, europäisches Völkerrecht!) zu sein, sodaß der heute noch zu-
weilen vorkommende Gebrauch des Ausdrucks europäisches Völkerrecht nur
mehr auf die Entstehung des Völkerrechts in Europa hinweist. Unter dem
Einfiuß der Macht des Verkehrs im Zusammenhang mit der materiellen
Autorität des Völkerrechts der europäischen Staaten und einer doch kaum
zu bestreitenden Assimilierung der verschiedenen Zivilisationen erweiterte sich
in der Neuzeit das Geltungsgebiet des Völkerrechts, indem auch Völker
fremder Zivilisationen in die internationale Gemeinschaft Aufnahme fanden
und nunmehr nicht wie in der Zeit der Entstehung des Völkerrechts aus-
schließlich religiöse und sittliche Anschauungen, sondern vorwiegend analoge
politische Organisation und Einrichtungen der nationalen Rechtsordnung,
welche die Herrschaft materieller Gerechtigkeit im Verkehr verbürgen, in den
Vordergrund treten. Dabei mag nicht bestritten werden, daß bei den Völkern
fremder Zivilisation das utilitarische Moment für deren Anerkennung der
verpflichtenden Kraft des Völkerrechts eine Rolle spielt; außer Stande, sich
dem mächtig entwickelten Weltverkehr durch Isolierung entgegenzustellen,
vollzieht sich ihr Eintritt in die vom Völkerrecht beherrschte Staatengemein-
schaft. Allerdings beobachten wir auch hier zunächst einen allmählich sich
vollziehenden Vorgang, was ja durchaus verständlich ist, da auf Seite jener
Völker deren religiöse und sittliche Anschauungen einen lebendigen Bestand-
teil auch ihres politischen Lebens bilden und mit dem Eintritt in den recht-
lich geordneten Verkehr mit den alten Trägern der völkerrechtlichen Idee
nicht ihre motivierende Kraft eingebüßt haben; infolgedessen weist das
1) Noch Art. 7 des Pariser Vertrags 1856 bezeichnet das damals geltende Völkerrecht
als „Öffentliches europäisches Recht.“