Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

54 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. & 10. 
  
Rechts wieder nur möglich bei Völkern, deren sittliche und religiöse An- 
schauungen, deren Kultur und Zivilisation einen homogenen Charakter auf- 
weisen. Dabei ist übrigens zu beachten, daß nicht die Höhe der Zivilisation 
und auch nicht deren Gemeinsamkeit oder Ahnlichkeit für sich allein ein 
Völkerrecht zu erzeugen vermochten; dies zeigt sich klar bei den Völkern 
des klassischen Altertums und den Völkern des asiatischen Ostens. Die 
individual- und völkerphychologischen kausalen Faktoren der Möglichkeit des 
Völkerrechts und seiner Geltung liegen in der Tat in erster Reihe im Bereich 
jener ethischen Grundlagen und hier wieder in einem durchaus spezifischen 
Inhalt derselben, der geschichtlich von dem Inhalt der religiösen Grundan- 
schauungen beeinflußt ist. So ist es, wie schon oben hervorgehoben worden, 
durchaus verständlich, daß die Idee des Völkerrechts nur bei den Völkern 
christlicher Weltanschauung ihre Verwirklichung finden konnte. Das Völker- 
recht tritt in der Tat als Völkerrecht der christlichen Staaten in die Ge- 
schichte der Menschheit ein. Die Macht der ethischen Grundlagen dieses 
christlichen Völkerrechts mußte ihm in erster Linie die Ausdehnung seiner 
Wirksamkeit überall da sichern, wo christliche Völker im Wege der Koloni- 
sation ihre politische Herrschaft zu befestigen wußten; das Völkerrecht, das 
zunächst unter den Völkern des christlichen Europa entstanden war, gelangte 
auch in fremden Weltteilen zur Herrschaft und hörte im topographischen 
Sinne auf, europäisches Völkerrecht!) zu sein, sodaß der heute noch zu- 
weilen vorkommende Gebrauch des Ausdrucks europäisches Völkerrecht nur 
mehr auf die Entstehung des Völkerrechts in Europa hinweist. Unter dem 
Einfiuß der Macht des Verkehrs im Zusammenhang mit der materiellen 
Autorität des Völkerrechts der europäischen Staaten und einer doch kaum 
zu bestreitenden Assimilierung der verschiedenen Zivilisationen erweiterte sich 
in der Neuzeit das Geltungsgebiet des Völkerrechts, indem auch Völker 
fremder Zivilisationen in die internationale Gemeinschaft Aufnahme fanden 
und nunmehr nicht wie in der Zeit der Entstehung des Völkerrechts aus- 
schließlich religiöse und sittliche Anschauungen, sondern vorwiegend analoge 
politische Organisation und Einrichtungen der nationalen Rechtsordnung, 
welche die Herrschaft materieller Gerechtigkeit im Verkehr verbürgen, in den 
Vordergrund treten. Dabei mag nicht bestritten werden, daß bei den Völkern 
fremder Zivilisation das utilitarische Moment für deren Anerkennung der 
verpflichtenden Kraft des Völkerrechts eine Rolle spielt; außer Stande, sich 
dem mächtig entwickelten Weltverkehr durch Isolierung entgegenzustellen, 
vollzieht sich ihr Eintritt in die vom Völkerrecht beherrschte Staatengemein- 
schaft. Allerdings beobachten wir auch hier zunächst einen allmählich sich 
vollziehenden Vorgang, was ja durchaus verständlich ist, da auf Seite jener 
Völker deren religiöse und sittliche Anschauungen einen lebendigen Bestand- 
teil auch ihres politischen Lebens bilden und mit dem Eintritt in den recht- 
lich geordneten Verkehr mit den alten Trägern der völkerrechtlichen Idee 
nicht ihre motivierende Kraft eingebüßt haben; infolgedessen weist das 
1) Noch Art. 7 des Pariser Vertrags 1856 bezeichnet das damals geltende Völkerrecht 
als „Öffentliches europäisches Recht.“ 
 
	        
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