$ 11. Kodifikation des Völkerrechts. 57
wiederholt bald als wissenschaftliches, bald als praktisches Problem in den
Vordergrund. Augenscheinlich ist es der unbefriedigende Zustand des Völker-
rechts, der hier das Bedürfnis nach einer Klarstellung der rechtlichen Grund-
lagen des Völkerverkehrs und einer zuverlässigen Orientierung in den Normen
des Völkerrechts und hiermit den Gedanken hervorrief, das in thesi sicherste
Mittel der Befriedigung jenes Bedürfnisses auch als das praktisch geeignetste
zu wählen. Indessen die immerhin bedeutsamen Fortschritte, welche das
Völkerrecht in unseren Tagen aufweist, zeigen gerade mit bezug auf die vor-
liegende Frage, daß die Momente der Weiterbildung des Völkerrechts nur
Symptome einer Entwicklung sind, die mit dem mächtig sich entwickelnden
internationalen Verkehr gleichen Schritt zu halten sucht. Ein Blick auf den
Aufschwung, den der Völkerverkehr in der modernen Zeit genommen hat,
zeigt, welch unermeßliches Feld von Aufgaben und Problemen der modernen
Staatenwelt sich insbesondere auf dem Gebiete der Wohlfahrtspflege, also
gerade jener Seite des Staatszwecks eröffnet, der im Staatswesen der Gegen-
wart primäre Bedeutung zukommt und in Gegenwart und Zukunft eine kon-
stante Quelle von Aufgaben bilden wird, die im Hinblick auf die sozialen
Interessen dringend Lösung verlangen — eine Lösung, die hinwieder auf das
Zusammenwirken der Kulturstaaten hinweist. Mag man daher die bestrittene
Frage !), ob das Völkerrecht im ganzen eine Kodifikation zuläßt, bejahen, so
müßte doch das heutige Entwicklungsstadium des Völkerrechts die Kodifikation
als unausführbar erkennen lassen. Abgesehen von den technischen Schwierig-
keiten dürfen auch die Gegensätze in den Anschauungen der Staaten gerade
bezüglich gewisser Grundfragen und die augenscheinlich geringe Neigung
der Staaten zur Schaffung eines internationalen Gerichts, das für die Wahrung
einheitlicher Anwendung des kodifizierten Rechts unentbehrlich wäre, nicht
übersehen werden. Für das Seekriegsrecht schuf allerdings die Haager
Konferenz von 1907 einen bedeutsamen Fortschritt durch Einrichtung
eines internationalen Oberprisengerichtts Im ganzen beschränkt sich die
Neigung der Staaten zur Kodifikation auf einzelne Materien, die
bisher durch Gewohnheiten und Verträge eine nahezu erschöpfende Re-
gelung gefunden haben, wobei vornehmlich der Zweck verfolgt wird,
an die Stelle der Vielheit der Quellenaussprüche eine klare und ein-
heitliche Regelung in einem Kollektivvertrag zu setzen, ferner auf solche
Materien, deren internationale Bedeutung in dem gesteigerten Weltverkehr
Zitat bei Klüber, Völkerrecht $ 292 Note a wird von Bergbohm, Staatsverträge S. 45 und
von v. Holtzendorff, HH I 8.141 ein anonymer „Essai sur un code maritime general eu-
ropeen, pour la conservation de la libert@ de la navigation et du commerce des nations
neutres en temps de guerre* (Leipzig 1782) angeführt. (Nachforschungen nach dieser Schrift
auch in den Bibliotheken des Verlagsorts waren ohne Erfolg).
1) F.v. Martens I S. 194 meint, daß die Hauptargumente gegen die Kodifikation der
bekannten Schrift Savigny’s, Voın Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissen-
schaft (1814) entnommen seien. Indessen, die Gründe gegen eine Gesamtkodifikation hängen
doch zu sebr mit der Eigenart des Völkerrechts und mancherlei publizistischen Schwierigkeiten
zusammen, die in dem Gedankengange der Savigny schen Schrift im Hinblick auf die Kolli-
fikation des nationalen Rechts keine Rolle spielen konnten.