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politische Ergebnis jener Bewegung aufgefaßt werden darf, die durch das
Werk des Grotius angeregt worden war. Der Gedanke der internationalen
Gemeinschaft und der Gleichberechtigung ihrer Mitglieder kam das erstemal
in dem Zusammentritt eines Kongresses, an dem alle bedeutenderen Mächte
Europas (mit Ausnahme Englands, Rußlands und Polens) beteiligt waren, auch
zu formeller Geltung. Die Beteiligung an der Ordnung der wichtigsten An-
gelegenheiten war nicht mehr abhängig von konfessionellen und staatsrechtlichen
Voraussetzungen (Monarchie oder Republik); die Parität der Katholiken und
Protestanten wurde rückhaltlos bezüglich der reichsrechtlichen Verhältnisse
anerkannt. Bleibende Bedeutung hat die Anerkennung gewisser konfessioneller
Befugnisse in den einzelnen Territorien (wie z. B. das Recht der devotio
domestica simplex für jede Konfession und die Anerkennung des Besitzstandes
nach dem sogen. Normaljahr — 1. Januar 1624). Die Ordnung der Terri-
torialverhältnisse des deutschen Reiches führte zur Anerkennung der Landes-
hoheit der zahlreichen Mitglieder des Reiches; die Schweiz und die Nieder-
lande erlangten volle staatliche Selbständigkeit.
Der Westphälische Frieden verkörperte die völkerrechtliche Idee in so
bedeutsamer Weise, daß er notwendig zum Ausgangspunkte der Regelung
aller jener internationalen Lebensverhältnisse werden mußte, welche das rege
politische Leben der folgenden Zeit hervorbrachte. Mit dem Gedanken der
Gemeinschaft war vor allem die rechtliche Ausgestaltung des Gesandtschafts-
wesens als eminent internationaler Institution verknüpft. Im Zusammenhang
mit der Machtentfaltung der großen Seemächte und den zahlreichen Streit-
fällen, welche der vielgestaltige Kampf um die Suprematie zur See mit sich
brachte, steht die allmähliche Ausbildung von Rechtsnormen über Blokade,
Kriegskontrebande, Wegnahme von feindlichen Schiffen und feindlichen Waren,
die Stellung der Neutralen, das Visitationsrecht, die Prisengerichtsbarkeit,
vor allem aber die Anerkennung des Grundsatzes der Freiheit des offenen
Meeres.
Die Schaffung und Anerkennung so vieler neuer Staaten, die sich aus
eigener Kraft.gegenüber den Aspirationen der gleichzeitig immer mächtiger
im europäischen Konzert auftretenden Großmächte nicht zu erhalten vermochten,
rückte den Gedanken der Erhaltung des politischen Gleichgewichts
in den Vordergrund; jedenfalls hängt die politische Bedeutung des West-
phälischen Friedens der Sache nach auf das engste mit dem Grundgedanken
und den eventuellen praktischen Konsequenzen zusammen, welche die kleineren
Staaten zum Schutz ihrer Selbständigkeit zu ziehen die Freiheit behalten
mußten. Zu formeller und ausdrücklicher Anerkennung kam das Prinzip der
Erhaltung des europäischen Gleichgewichts allerdings erst im Frieden von
Utrecht 1713, durch den die Eroberungskriege Ludwigs XIV. ihren Abschluß
fanden und die Machtverhältnisse des damaligen Europa auf der Grundlage
jenes Prinzips eine neue Gestaltung fanden. Nach dem 30 Jahre dauernden
verheerenden Kriege war der Friedensschluß des Jahres 1648 gewiß zugleich
eine Manifestation des allgemeinen Friedensbedürfnisses; allein die Ereignisse
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zeigen doch zu deutlich, daß selbst