Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

74 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 8 16. 
— 
  
zeit auf allen Gebieten des Völkerrechts zutage gefördert hatte, blieben un- 
berührt, so z. B. die wichtige Materie des Neutralitätsrechts, obwohl die 
Praxis des damaligen Seekriegs die Grundsätze der bewaffneten Neutralität 
von 1780 und jener von 1800 mißachtend alle rechtliche Ordnung auf diesem 
Gebiete vernichtet hatte. Die positiven Erfolge des Kongresses liegen vor 
allem auf dem eigentlich politischen Gebiet, in der Herstellung einer neuen 
Ordnung und des Gleichgewichts der Mächte (Vorbereitung der Konstituierung 
des deutschen Bundes und der schweizerischen Eidgenossenschaft, Neutrali- 
sierung der letzteren, Gründung des Königreichs der Niederlande, der Real- 
union von Schweden und Norwegen, Restauration der Dynastien in Spanien, 
Sardinien, Toskana, Modena und der päpstlichen Herrschaft); für die Weiter- 
bildung des Völkerrechts bedeutsame Beschlüsse waren die folgenden: es 
wurde ein Reglement für die Klassifikation der diplomatischen Agenten fest- 
gestellt, das Verbot des Negerhandels sanktioniert und die Freiheit der Schiff- 
fahrt auf internationalen Flüssen als Prinzip des allgemeinen Völkerrechts 
anerkannt. '!) 
Scheinbar im Interesse der Befestigung der durch die voraufgehenden 
Ereignisse schwer erschütterten völkerrechtlichen Ordnung griff noch im 
Kongreßjahre eine Aktion der Souveräne von Oesterreich, Preußen und Ruß- 
land in den Gang der Politik und die Entwicklung des Völkerrechts ein, die 
geeignet war, maßgebende Voraussetzungen der Geltung und Herrschaft des 
Völkerrechts in Frage zu stellen. In Jahrhunderte langer Entwicklung hatte 
sich die Überzeugung befestigt, daß die völkerrechtliche Ordnung ohne die 
rückhaltlose Anerkennung der Selbständigkeit und rechtlichen Gleichheit der 
Staaten, sowie der Freiheit von konfessionellem Einfluß nicht gedacht werden 
kann, und daß das Objekt jener Ordnung wesentlich nur in den Beziehungen 
der Staaten und nicht der Staatsoberhäupter zu erkennen ist. Allein jene 
Aktion — die sogen. heilige Allianz (geschlossen zu Paris am 26. September 
1815)2) war das ausschließliche Werk der drei Souveräne ?), stellte das Völker- 
recht, die nationale und internationale Politik einseitig in den Dienst kon- 
fessioneller Moral und inaugurierte — wie die Geschichte der Periode von 
1815—1840 zeigt — die Herrschaft einer Art natürlicher Aristokratie der 
fünf Großmächte (Pentarchie), sodaß diese, so lange sie einig waren, ein 
Protektorat über die anderen Mächte ausübten. Das leitende Prinzip 
der Politik war das (von Talleyrand formulierte) Prinzip der Legitimi- 
tät. Es handelte sich nicht bloß um die Wahrung der politischen Neuge- 
staltung Europas durch den Wiener Kongreß; es sollten auch die bestehenden 
Verfassungen und regierenden Dynastien aller Länder der europäischen Völker- 
  
1) Die Dokumente s. bei Fleischmann 5, 17, 15, 23 und den Additionalartikel zum 
zweiten Pariser Frieden vom 20. November 15915 betreffend die Abolition des Negerhandels 
(Fleischmann 22). 
2) Siche das Dokument bei Fleischmann 19. 
3) Um deswillen lehnte der Regent von England — der nachmalige König Georg IV. — 
den Beitritt ab, weil die englische Verfassung die Contrasignatur diplomatischer Akte durch 
den verantwortlichen Minister fordert.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.