8 19. Die Staaten im Allgemeinen. 89
so gelangt man für das Völkerrecht zu dem Satze, daß nur souveräne Staaten
Völkerrechtssubjekte sein können. Indessen, die tatsächlichen Erscheinungen
des Staatslebens und der Beziehungen von Staaten untereinander lassen doch
erkennen, daß die Eigenschaft der Souveränetät einem staatlichen Gemein-
wesen fehlen kann, ohne daß ihm die völkerrechtliche Rechtsfähigkeit d. i. die
Eigenschaft, Subjekt internationaler Rechtsverhältnisse zu sein, abgeht. !)
Souverän ist jener Staat, dessen Herrschaft alle auf seinem Gebiete befind-
lichen Personen und Korporationen unterworfen sind und der von der Herr-
schaft jedes anderen Gemeinwesens unabhängig ist. Die Souveränetät ist ein
einheitlicher Begriff.2) Gleichwohl kann die Souveränetät vom Standpunkt des
Staates als Einzelpersönlichkeit und von jenem als Mitglied der Staatengemein-
schaft in Betracht gezogen und sohin eine staatsrechtliche und völker-
rechtliche Seite der Souveränetät unterschieden werden.3) Das volle
Maß völkerrechtlicher Rechts- und Handlungsfähigkeit besitzt der souveräne
Staat. Abhängigkeitsverhältnisse, welche in geschichtlichen Vorgängen oder
dürfen, als die Souveränetät selbst das Ergebnis eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses
bildet, den die tatsächlichen Verhältnisse des staatlichen Gemeinlebens durchliefen. Die Aus-
bildung des Souveränctätsbegriffs hängt doch bekanntlich anf das engste zusammen mit der
Überwindung der eine zentrale und einheitliche Staatsgewalt ausschließenden Machtverhält-
nisse des mittelalterlichen Staatswesens. Die Ansicht, daß die Souveränetät kein begriffliches
Merkmal des Staates ist, wird vertreten von R.v.Mohl, Enzyklopädie S.86; Georg Meyer.
Staatsrechtliche Erörterungen S. 3ff.: Lehrb. d. d. Staatsr. (4. Aufl.) S. 4ff.; Laband, Staats-
recht (2. Aufl.) IS. 61ff. und H S. i7ff.: Jellinek, Staatenverbindungen S. Sb ff.;: Der-
selbe, Allg. Staatslehre, 420ff., 442ff.; H. Schulze, Lehrbuch S. 26ff.; Rosin in den
Annalen d. d. Reichs 1883 S. 273ff.; Mejer, Einleitung in d. d. Staatsrecht (2. Aufl.) S. 24;
Rehm, Allg. Staatslehre, 63ff. u. Oppenheim, $$ 63 ff. — Die entgegengesetzte Ansicht
vertreten von Neueren: v. Seydel, Ztschr. für die gesamte Staatswissenschaft XXXIII (ab-
gedruckt auch in seinen Abhandl. staatsrechtl. und pol. Inhalts), in seinem bayer. Staatsr.
und im Kommentar zur Verf.-Urk. d. d. Reiches; Zorn, Staatsrecht (2. Aufl.) I S.47: Lingg,
Empirische Untersuchungen zur allgemeinen Staatsichre (1590) S. 223, 235; Bornhak, Allg.
Staatslehre 9; Hänel, Staatsr: I, 113, 798.
1) In der Geschichte des Souveränetätsbegriffs tritt das Element der Unabhängig-
keit gerado im Hinblick auf tatsächliche Verhältnisse in den Vordergrund. So, wenn im
Westphälischen Friedensinstrument nur dem Kaiser und Reich, nicht aber auch den Landes-
herren Souveränetät zuerkannt wird, zugleich aber die Landesherren trotz ihrer Abhängigkeit
vom Reich als Träger des Gesandschafts- und Vertragsrechts, sowie des subjektiven Kricgs-
rechts anerkannt werden. Zur Charakterisierung dieser Phase der Entwicklung des Sou-
veränetätsbegriffe sagt Rehm, Allg. Staatl. 51 mit Recht: „Das Recht konnte man den
Ständen nicht absprechen und ihre Abhängigkeit nicht leugnen, wollte man den Boden des
positiven Rechts nicht verlassen!“ Der Souveränctätsbegriff wird „auf das rein völker-
rechtliche Element der Unabhängigkeit von jedermann eingeschränkt“. „Unabhängigkeit
von jedermann und Souveränctät sind Wechselbegriffe.“ Vgl. auch Rivier, Principes, T,
81 sq. Die tatsächlichen Verhältnisse lassen uns Staaten erkennen, die nach innen unabhängig
sind, ohne zugleich nach außen unabhängig zu sein. Über dieses Ergebnis der Betrachtung
der realen Erscheinungen gegenüber dem Souveränitätsbegriff Bodins siehe Rehm, Allg.
Staatsl. 55. Bodin postuliert die Unabhängkeit nach außen auf Grund der Unabhängigkeit
nach innen.
2) Vgl. Hänel, Staatsrecht I S. 118; Georg Meyer, 18.
3) Vgl. Heilborn, Das völkerrechtliche Protektorat 8.47, 48; Rehm, Allg. Staats-
Ichre 63ff.