90 Zweites Buch. Die Subjekte des Völkerrechts. 819.
in gewissen Zuständen eines Staates in politischer und kultureller Beziehung
ihre Wurzel haben können, beeinflussen in verschiedenem Maße die Rechts-
und Handlungsfähigkeit und sohin die Souveränetät. Die Beschränkung der
Geschäftsfähigkeit des abhängigen Staates besteht nicht bloß dem anderen
Staate, sondern allen übrigen Staaten gegenüber. Über die Grenze jener Be-
schränkung hinaus besteht aber auch für den in einem betreffenden Abhängig-
keitsverhältnisse befindlichen Staat doch wieder Unabhängigkeit, nämlich re-
lative Unabhängigkeit. Der Staat ist nichtsouverän, wenn ihm infolge
betreffender Abhängigkeitsverhältnisse die völkerrechtliche Rechts- und Hand-
lungsfähigkeit vollständig abgeht: er ist kein Subjekt völkerrechtlicher Rechte
und Pflichten. Bloße Beschränkungen der Rechts- und Handlungsfähigkeit
schließen dagegen die völkerrechtliche Rechtssubjektivität nicht aus. In der
logisch allerdings nicht zutreffenden Bezeichnung dieser Staaten als sog. halb-
souveräne Staaten kommt der Gegensatz dieser Völkerrechtssubjekte gegen-
über den normalen Trägern der Völkerrechtssubjektivität — den vollsou-
veränen Staaten — zum Ausdruck; auf diese letzteren beschränkt sich der
Grundsatz der Rechtsgleichheit der Staaten, weil in ihrer vollkommen freien
Persönlichkeit die Voraussetzung selbständiger Betätigung eines rechtlich maß-
gebenden Willens und damit die Möglichkeit des Völkerrechts überhaupt ge-
geben ist. Das Maß der Fähigkeit der sog. halbsouveränen Staaten, im Völker-
verkehr Rechte zu erwerben und Pflichten zu begründen, bezw. ihren Willen
in auswärtigen Angelegenheiten selbständig zu betätigen, ist verschieden je
nach der Beschaffenheit und dem Umfang des Abhängigkeitsverhältnisses, in
dem diese Staaten zu dritten Staaten sich befinden. Ein Beispiel positivrecht-
licher Normierung der Rechtsfähigkeit eines halbsouveränen Staates bietet der
Berliner Vertrag v. J. 1878, in welchem Bulgarien das Recht eingeräumt ist,
selbständig Handelsübereinkommen abzuschließen. 1) Beispiele beschränkter
bezw. ausgeschlossener Handlungsfähigkeit bieten die durch völkerrechtliches
Protektorat begründeten Abhängigkeitsverhältnisse.2) Eine Vertretung des
Unterstaates durch den Oberstaat setzt die Anerkennung des ersteren als Rechts-
subjekt voraus. Die Praxis der Protektoratsverhältnisse bestätigt übrigens die
Anerkennung des Unterstaates als völkerrechtliche Persönlichkeit seitens des
Oberstaates und seitens dritter Staaten. ?)
Ohne Einfluß auf die Souveränetät und die Eigenschaft als Völkerrechts-
subjekt sind gewisse Verhältnisse, aus welchen zwar dauernde Verpflichtungen
einem dritten Staate gegenüber entspringen, die aber die völkerrechtliche
1) Solche Verträge wurden abgeschlossen zwischen Bulgarien und England (14./26. No-
vember 1889), Deutschland, Österreich-Ungarn (1890, 24. Dezember 1894, 5. Januar 1895) usw.
Siehe Näheres Revue g£&nerale de droit intern. publ. II p. 550 sq.
2) Vgl. Heilborna.a. 0. S. 50ff.
3) So verweist Heilborn a.2.0 S.50 bezüglich Madagaskars auf eine Erklärung
der französischen Regierung, der zufolge die Geltung der von dem Unterstaate mit fremden
Staaten abgeschlossenen Verträge anerkannt wird. Vgl. auch die S.51 mitgeteilten Fälle. Be-
züglich der Behandlung der Unterstaaten als völkerrechtliche Personen seitens dritter Staaten
siehe ebenda S. 52.