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Der Sieg der Krone im Verfassungskonflikt.
Viele Leute streiten darüber, wer mehr Verdienst an der
Gründung des deutschen Reiches hat, König Wilhelm oder
Fürst Bismarck. Das ist ein ganz törichter Streit. Soviel ist
gewiß, daß sie alle beide dazu nötig waren. König Wilhelm
hätte die Krone niedergelegt, wenn er nicht Bismarck als Rat-
geber gefunden hätte; und Bismarck hätte niemals auch nur
den hundertsten Teil von dem leisten können, was er geleistet
hat, wenn ihn nicht König Wilhelm gegen alle Ratschläge
anderer Leute als Minister behalten hätte. Jeder wankelmütige
König hätte Bismarck längst entlassen, ehe Bismarck etwas
ausrichten konnte; denn alle Leute sagten doch dem Könige
tagtäglich: „Dieser Mensch richtet Preußen und Deutschland
zu Grunde.“ Der König aber wußte besser, was Bismarck
wollte; er wußte, daß Bismarck dasselbe wollte wie er; daß
er Preußen stark machen wollte, damit ganz Deutschland an
Preußen eine Stütze und Hilfe hätte. So folgte er, wenn
auch nicht in allen Einzelheiten, so doch in allen wichtigen
Sachen den Ratschlägen Bismarcks. In der Frage des Ver-
fassungskonfliktes ging es ebenso.
Solange hatten nun die Abgeordneten immer behauptet,
sie kämpften für das Recht, und der König und Bismarck
kämpften für das Unrecht. Ja, man behauptete, Bismarck
hätte gesagt: „Macht geht vor Recht.“ Denn man glaubte
einfach, Recht wäre alles, was die Abgeordneten wollten; wenn
also der König, der doch nun einmal die Macht hat, ihnen nicht
gehorchen wollte, so stellte er eben die Macht über das Recht.
Davon wollten sie aber nichts wissen, daß des Königs Recht
viel älter und vornehmer ist, als das Recht der Abgeordneten.
Denn die Abgeordneten hatten ihr Mandat vom Volke doch
damals immer nur auf drei Jahre — jetzt haben sie es auf
fünf Jahre — der König aber hat ein Mandat vom Voklke,