476 8 90. Die Verfassungsurkuude des Königreichs Bayern. Tit. II.
8§ 9. Die Reichsverwesung 19) tritt ein:
a. während der Minderjährigkeit des Monarchen;
b. wenn derselbe an der Ausübung der Regierung auf eine
längere Zeit verhindert ist, und für die Verwaltung des
Reichs nicht selbst Vorsorge getroffen hat oder treffen kann.20)
&§ 4. Dem Könige allein bleibt es vorbehalten, zur Entscheidung wichtiger
Jälle in persönlichen Angelegenheiten der Glieder des königlichen Hauses einen
Familienrat zu berufen.
Derselbe besteht aus dem Könige, dem Kronprinzen, denjenigen Prinzen
des königlichen Hauses, welche das 21. Jahr erreicht haben, den Kronbeamten und
Ministern.
8§ 5. Die Zusammenberufung wird den sämtlichen Mitgliedern durch ein
besonderes königliches Dekret bekannt gemacht.
6. Der Familienrat als königlicher oberster Gerichtshof wird von dem
Könige oder in dessen Abwesenheit von dem Kronprinzen präsidiert; sind beide
nicht gegenwärtig, so wird das Präsidium nach Gutbefinden des Monarchen einem
anderen durch ein besonderes Dekret übertragen.
§ 7. Der Staatsminister der Justiz hat bei dem königlichen Familienrate
den Vortrag.
½ § 8. Der Familienrat erkennt in der ihm beigelegten Eigenschaft nach
den rechtlichen Verhältnissen des Falles.
Die Bestätigung bleibt dem Könige vorbehalten. —
Wir erklären dieses Familien-Statut als ein pragmatisches Haus-Gesetz,
welches nicht nur sämtliche Mitglieder Unseres Hauses verbindet, sondern auf
dessen Beobachtung auch sämtliche Staats-Ministerien und übrige Landesstellen
angewiesen werden.
1!) Ueber Reichsverwesung s. oben § 39 S. 139 f.; ferner v. Seydel 1,
224 ff.; Pözl, Verf.-Recht § 145 ff.
:°) Ueber die Frage, ob während der Reichsverwesung eine Veränderung
der Verfassung vorgenommen werden darf, herrscht nunmehr wohl überwiegend die
Ansicht, daß eine solche zulässig und möglich sei. S. hierüber oben § 39 S. 139 f.
Dem dort Gesagten fügen wir noch bei:
Nach Tit. II § 15 wird in den im § 9 a und b bezeichneten Fällen die
Regierung (seitens des Reichsverwesers) im Namen des minderjährigen oder
in der Ausübung der Regierung gehinderten Monarchen geführt. Unter „Re-
gierung“ ist hier offenbar alle Gewalt verstanden, welche nach Tit. II § 1 dem
Könige zusteht, also nicht blos die Regierungsgewalt im engeren Sinne, sondern
auch die Gesetzgebungsgewalt. Weiter bestimmt Tit. II § 17: Der Regent übt
während seiner Reichsverwesung alle Regierungsrechte aus, welche durch die
Verfassung nicht besonders ausgenommen sind. Die einzige Ausnahme
aber, welche die Verfassung kennt, ist in Tit. II 8 18 aufgeführt. Alle Rechte
nun, die nicht besonders ausgenommen sind, stehen aber dem Reichsverweser, der
im Namen des Königs regiert, ebenso zu wie dem Könige: also auch das Recht,
unter der von der Verfassung vorgeschriebenen Form (Tit. X 8§ 7) Gesetze zu er-
lassen, welche eine Abänderung der Verfassung enthalten.
Uebrigens beweist die Erlassung des Gesetzes vom 26. Oktober 1887 „die
Erläuterung und den Vollzug des Tit. II § 18 der Verf.-Urk. betr.“ selbst, daß
die Mitglieder der landesherrlichen Familien, sowie die Mitglieder der fürstlichen Familie Hohen-
zollern sind in ihrer Wohnung zu vernehmen.
Den Eid leisten dieselben mittels Unterschreibens der die Eidesnorm enthaltenen Eidesformel.
Zur Hauptverhandlung werden sie nicht geladen. Das Protokoll über ihre gerichtliche Ver-
nehmung ist in der Hauptverhandlung zu verlesen.
Vergl. hiezu noch §§ 196, 340, 441 und 444 der Reichs--Civ.-Proz.-Ordn.