76 Das Dentsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 18.)
tarität herrscht; — ist das Land dadurch glücklicher geworden? Wären
diese großen Länder nicht viel zufriedener in sich, wenn sie mehr als ein
Zentrum hätten? Das Bedürfnis nach Partikularismus ist bei uns Deut—
schen so groß, daß, nachdem der geographische Partikularismus überwunden
war, soweit es nötig war, der Partikularismus in anderer Form sofort
wieder auftauchte. Der Deutsche braucht engere Verbände; geht ihm der
geographische Partikularismus verloren, so schafft er sich Fraktionspartiku=
larismus. Man geht in Fraktionen über und vergißt die Allgemeinheit;
das ist die schwere Krankheit, an der wir heutigen Tages leiden, denn unsere
heutigen Fraktionen sind in ihrem Partikularismus viel schlimmer, als alle
Sachsen und Bayern dem Reichsgedanken gegenüber jemals gewesen sind.
Ich weiß nicht, ob es uns gelingt, diese Krankheit bei wiederholten Wahlen
zu bekämpfen. Ich glaube nicht, daß es jetzt schon gelungen ist, das Frak-
tionswesen zu klassifizieren nach den Dynastien und Ortschaften, sondern
daß es aufgeht in den Bestrebungen der Fraktionsleiter. Das sind die
Werber, die Kondottieri, von denen jeder sich seine Schar anwirbt, an deren
Spitze er hofft die Herrschaft zu erlangen über den von ihm nicht beliebten
Nebenbuhler. Die Eifersucht der Fraktionen ist der Krebsschaden in unserem
Lande. Das Deutsche Reich ist angewiesen auf die Gesamtheit der Intelligenz
und des Vertrauens, welches Ministerium und Parlament gemeinsam auf-
bringen können. Und wenn die Intelligenz und das Vertrauen auf der
einen Seite fehlt, nehmen wir an, auf der ministeriellen, so muß auf der
anderen Seite das Minus gedeckt werden und die Thätigkeit der Volksver-
tretung hervortreten; wenn aber der Volksvertretung das richtige Vertrauen
verloren geht, so muß die staatliche Leitung das Steuerruder fester in die
Hand nehmen. Sie müssen sich gegenseitig ergänzen zur Gesamtheit von
Einsicht, Tapferkeit, Baterlandsliebe und Heimatsliebe. Darin wird nach
mancher Richtung hin gesündigt, was ich aber hier in Gegenwart der Damen
nicht weiter ausführen will. Wenn von dem Redner vorhin meine Mit-
wirkung an dem Erreichten, an der Herbeiführung der Zustände, mit welchen
wir im Großen und Ganzen zufrieden sind, hervorgehoben wurde, so er-
wähne ich meinerseits, daß auch Mecklenburg daran Anteil hat; es wäre
Unrecht, wenn ich dies verschweigen wollte. Die Mutter des Kaisers Wil-
helm I. war eine mecklenburgische Prinzessin, sie war aber durch und durch
eine Deutsche und hat ihre Gefühle auf ihren Sohn ihren Lieblings-
sohn, glaube ich wohl sagen zu können — vererbt. Insofern hat sie an
der Vorbereitung des deutschen Einheitsgedankens ein wesentliches Verdienst.
Auch den alten Blücher will ich nicht vergessen. Nehmen Sie an, daß wir
anno 1815 bei Waterloo nicht gesiegt, daß wir den alten Blücher nicht ge-
habt. Wie es dann gekommen wäre, ist schwer zu sagen, aber daß es, wie
es gekommen wäre, nicht zum Nutzen Deutschlands gereicht hätte, dessen
werden Sie alle wohl sicher sein. Hier möchte ich dem Hamburger Redner
sagen, daß auch damals, beim alten Blücher, de mecklenborgsche Fixigkeit
nich utbläwen is, und demnächst auch bei Ligny nicht. Dann möchte ich
vor allem noch meines verstorbenen Freundes und Mitarbeiters Moltke ge-
denken, auf den Sie als Landsmann nach seiner Abstammung und Geburt
Anspruch haben. Und deshalb darf ich wohl, ohne der Wahrheit zu nahe
zu treten, sagen, daß der Anteil Mecklenburgs an der Wiederherstellung
der Einheit Deutschlands in den Gestalten dieser Personen kein geringer ist.
Ich habe als Brandenburger, als altmärkischer Nachbar des mecklenburgi-
schen Landes und demnächst als preußischer und als Reichsbeamter mit vielen
Mecklenburgern Beziehungen gehabt und habe sie hervorragend an Tüchtig-
keit und Arbeitsamkeit gefunden. Da sind vor allen die Bülows und die
Bernstorffs, die wir in unserem Militär= und Zivildienst gehabt haben und