Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

90 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
die Verleihung des Amtes nach lehnrechtlichen Grundsätzen. Gegen Ende der fränkischen Zeit 
wurde die Vererbung der Grasschaft vom Vater auf den Sohn zunächst in Westfranzien die 
herrschende Regel. 
Schon die merowingische Zeit kannte als Vertreter des Grafen für den Einzelfall bestellte 
missi comitis. Unter den Karolingern findet sich in Westfranzien und Italien ein besonderer 
Beamter als ständiger Vertreter des Grafen in der Grasschaftsverwaltung, der den Titel vice- 
comes führt. 
Über mehrere Grafen war in merowingischer Zeit ein Herzog (dus) gesetzt, der die mili- 
tärischen Kräfte eines größeren Bezirkes unter sich vereinigte und eine dem Grafen übergeordnete 
Gerichtsgewalt ausübte. Doch existierte nicht überall ein Herzogtum, sondern es gab zahl- 
reiche Grafen, die nicht unter einem Herzog standen. Zur Zeit der Schwäche des merowingi- 
schen Königtums gelang es in einzelnen Teilen des Reiches den Herzogen, eine erbliche und 
ziemlich unabhängige Stellung zu gewinnen, in der sie zwar die Oberhoheit des Königs an- 
erkannten, aber sich nicht mehr als Beamte betrachteten. Im Gegensatz zum alten Amts- 
herzogtum kann man dieses Herzogtum mit staatsrechtlich sanktionierter Selbständigkeit als 
Stammesherzogtum bezeichnen. Den Karolingern gelang es, das Stammesherzogtum allent- 
halben wieder zu beseitigen. Der karolingischen Verfassung ist ein besonderes Herzogtum un- 
bekannt. Doch findet sich der Titel dux. Ihn führen nicht selten die Markgrafen (marchiones, 
marchisi), welchen an den Reichsgrenzen ein Gebiet von dem Umfange mehrerer Grafschaften 
in die Hände gelegt ist, um einen kräftigen Grenzschutz zu ermöglichen. 
In den Hundersschaften ist der vom Volke gewählte Hundertschaftsvorsteher (centenarius, 
hunno) vielfach, aber nicht überall zu einem Unterbeamten des Grafen geworden, den der Graf 
unter Beteiligung des Volkes ernannte. Jener war mit der richterlichen Exekution und mit 
der Eintreibung der fiskalischen Gefälle betraut und erscheint daher auch unter dem Namen 
Schultheiß (sculthaisus). Bei Gericht saß er dem Grafen als Gehilfe zur Seite. Im gebotenen 
Ding konnte er ihn als Richter vertreten. Der neustrische Graf hatte in den romanischen Ge- 
bieten einen Unterbeamten, vicarius, für den Bezirk der Vikarie. Nachdem in karolingischer 
Zeit der Zentenar zum Unterbeamten des Grafen geworden, wurden die Ausdrücke vicaria 
und centena, Vikar und Zentenar, als gleichbedeutend gebraucht. 
Das ribuarische Recht kannte das Amt eines ständigen Gerichtsschreibers, cancellarius, 
der im Mallus anwesend war und daselbst die öffentliche Vollziehung von Urkunden besorgte. 
Die ribuarische Einrichtung drang auch in das salische und in das alamannische Rechtsgebiet 
ein, doch geriet sie seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts allenthalben in Verfall. Da- 
gegen erhielt sich in Italien die in karolingischer Zeit durchgeführte Einsetzung amtlicher und 
ständiger Schreiber der Grafschaftsgerichte, womit die Entstehung eines öffentlichen Notariats 
in Zusammenhang steht. 
Ein wirksames Mittel zur Zentralisienung der Reichsverwaltung schuf Karl der Große 
in dem Institut der missi dominici. Schon früher hatten die Könige von Fall zu Fall Bevoll- 
mächtigte mit Spezialaufträgen in einzelne Reichsteile geschickt (missi ad hoc). Karl machte 
hieraus eine organische Einrichtung der Verwaltung, indem er das Reich in große missatische 
Sprengel teilte, von denen jeder durch mehrere missi, gewöhnlich zwei, einen geistlichen und 
einen weltlichen Großen, regelmäßig bereist wurde. Sie hatten die Tätigkeit der ordentlichen 
Beamten zu kontrollieren und zu ergänzen und hielten Landtage und, mit der außerordent- 
lichen Gewalt des Königs versehen, Gerichtstage ab. Die Stellung dieser ordentlichen wandernden 
Missi war keine ständige. Meist wurden für jeden Reisebezirk jährlich neue Missi ernannt. Als 
eine zwischen Königtum und Grafschaft stehende Gewalt bot das missatische Institut einen Ersatz 
für das von den Karolingern nicht mehr geduldete Herzogtum. Als unmittelbare Stellvertreter 
des Königs brachten die Missi unter Karl dem Großen die Reformgedanken des Königshofes 
in allen Teilen des Reiches zur Geltung. Unter Ludwig I. begann die Einrichtung zu entarten. 
Indem das missatische Amt auf territoriale Gewalten des missatischen Sprengels übertragen 
wurde, entwickelte sich die Institution ständiger Missi. Wandernde Missi wurden nur noch aus- 
nahmsweise abgeschickt. Im ostfränkischen Reiche fanden sich seit Ludwig dem Deutschen nur 
noch ständige Missi und missi ad hoc.
	        
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