REIF IN FRÜHLINGSNACHT 355
so machte ich mir weiter keine Skrupel. Jetzt, wo ich die Geschichte meines
Lebens niederschreibe und alle Geschehnisse in bunter Reihe an mir vor-
überziehen lasse, wünsche ich auch diese Episode nicht zu übergehen. Wie
ich schon im Eingang des ersten Bandes sagte, haben Memoiren nur dann
einen Wert, wenn sie innerlich wahr sind, nichts verschweigen und nichts
korrigieren. Auch wer als Staatsmann Ernst in Lebensführung und Lebens-
arbeit gezeigt hat, mag in jungen Jahren über die Stränge geschlagen haben.
Am Abend des Lebens die Jugendzeit in selbstzufriedener Rückschau mit
dem Mantel der Tugend zu drapieren, ist der Versuch einer Unwahrheit.
Meinem Lebensbilde eingefügt, möge die Episode von St. Wolfgang und
manche andere dieser Art zeigen, daß ein Mann, dem es Ernst ist mit Leben
und Amt, sich selber meistern kann, wenn seine Zeit gekommen ist. Heute
sage ich mit dem Psalmisten: Herr, gedenke nicht der Sünden meiner
Jugend und meiner Übertretungen, gedenke aber meiner nach deiner Barm-
herzigkeit um deiner Güte willen. (Ps. 25,7.)
In Salzburg, das wir wiederholt von St. Wolfgang aus aufsuchten, sollte
ich eine Begegnung haben, die wie eine mahnende Stimme mich an beruf-
liche Arbeit, an schaffendes Streben, an den Ernst des amtlichen Lebens
erinnerte. Die Szene steht mir heute noch in lebhafter Erinnerung. Ich war
mit meiner Freundin vom Gaisberg, an dessen wundervoller Aussicht wir
uns erfreut hatten, herabgestiegen, und wir gedachten uns in St. Peters
Stiftskeller zu erquicken, Des schönen Augenblicks froh, betraten wir den
stimmungsvollen Raum. Vor uns stand, offenbar in tiefe Gedanken ver-
sunken und uns vorerst nicht beachtend — Lothar Bucher. Woran
dachte er? Dachte er an seinen einstigen Parteifreund und Gefährten
während ihres gemeinsamen Exils in London, an Karl Marx? Dachte er an
seinen jetzigen Chef, Otto von Bismarck? Wog er, der zu stillem Grübeln
neigte, den einen gegen den andern ab? Als er mich erblickte, noch dazu in
Begleitung einer schönen und sehr eleganten Frau, wich er scheu zurück,
während wir uns an den guten Weinen des Stiftskellers labten, froh,
glücklich und geschwätzig wie Kinder, die Ferien haben und dem Lehrer
begegnen. Aber der Anblick des bedeutenden Mannes, der so viel gesehen,
erlebt und gedacht hatte, erinnerte mich wieder an den Ernst, an die Tat-
sächlichkeiten des Lebens. Vor mir stand Berlin, das Auswärtige Amt,
stand mein strengdenkender Vater, stand mein bisheriger und mein
künftiger Pflichtenkreis. Es war wie Reif in Frühlingsnacht.