Stahls Rechtsphilosophie. 415
Denkern jüdischen Blutes. Einem Volke, das seit Jahrhunderten seinen natio-
nalen Staat verloren hatte, mußte die lebendige Staatsgesinnung fremd blei-
ben; selbst die zwei politischen Schriften Spinozas verdankten ihren Ruhm
nur ihrer mächtigen dialektischen Kraft, nicht der politischen Einsicht. Stahl
dagegen wurde so ganz zum Christen und zum Preußen, daß seine Stamm-
genossen ihn bald nicht mehr zu den Ihrigen zählen wollten. Er hatte
sich, durchaus selbständig, an den Ideen der historischen Rechtsschule ge-
bildet. In seiner Rechtsphilosophie widerlegte er zunächst die unlebendigen
Abstraktionen der Naturrechtslehre und erwies schlagend, daß es überall
nur ein positives, historisch gewordenes Recht geben kann. Nachdem er
also die Gegner überwunden, unternahm er sodann, „auf der Grundlage
christlicher Weltanschauung“ ein System der Staats= und Rechtslehre auf-
zubauen, und hier verirrte sich sein scharfer und tiefer Geist doch in die
Irrwege jener phantastischen Schellingschen Methode, welche dem Denker,
sobald er sich zur Idee des Universums erhoben hätte, das Recht zusprach,
die höchsten Probleme ohne Beweise, allein aus der Anschauung jener Idee
heraus, zu erklären. Stahl erkannte, daß alles Recht seinen Inhalt aus
dem nationalen Bewußtsein, sein Ansehen durch sich selbst empfängt, seinen
letzten Grund jedoch nur in dem Gebote des lebendigen, persönlichen, das
persönliche Leben der Geschichte beherrschenden Gottes haben kann, ganz
wie das Gewissen der Völker und der einzelnen, das je nach Zeit und
Ort so Verschiedenes aussagt, doch die allen gemeinsame Vorstellung von
einem höchsten sittlichen Gute, vom Willen Gottes enthält. Allein er glaubte
von diesem Ethos, diesem Gebote Gottes mehr zu wissen, als Sterblichen
zu erkennen bestimmt ist; er schrieb dem menschlich notwendigen Staate
zugleich einen göttlichen Charakter zu und wollte in den Geschicken des
Staates eine mittelbare Einwirkung des göttlichen Willens erkennen, der-
gestalt daß überall selbst die bestimmten Personen der Obrigkeit göttlicher
Weihe teilhaftig sein sollten. So geriet er in das Gebiet des Unbeweis-
baren und stellte gerade bei der Erörterung der politischen Grundbegriffe
statt wissenschaftlicher Sätze oftmals nur willkürliche subjektive Behaup-
tungen auf, die er freilich mit dem ganzen Nachdruck einer innerlich er-
lebten religiösen Überzeugung vortrug.
Aber wie gröblich verkannte man ihn doch, wenn man ihn darum
einen Mystiker schalt. Wie er einst als bayrischer Abgeordneter die Rechte
des Landtags tapfer verteidigt hatte, so blieb er sein Lebelang ein ab-
gesagter Feind aller Staatsstreiche, aller polizeilichen Willkür. Ein ganz
moderner Mensch bekämpfte er Adam Müllers theokratische Ideen ebenso
entschieden wie Hallers altständische Staatslehre und erklärte geradehin,
der innerste Lebenstrieb des Zeitalters bekunde sich überall in dem Drange,
den Partikularismus der Stände durch die nationale Einheit, die patri-
moniale Staatsanschauung durch die staatliche, konstitutionelle zu über-
winden. Obwohl er den Traum eines Staatsideals verwarf, so hielt er