Full text: Regierungsblatt für das Königreich Württemberg vom Jahr 1899. (76)

1284 
Gesetz, 
beireffend die Zwangserziehung Minderjähriger. Vom 29. Dezember 1899. 
Wilhelm II., von Gottes Gnaden König von Württemberg. 
Nach Anhörung Unseres Staatsministeriums und unter Zustimmung Unserer 
getreuen Stände verordnen und verfügen Wir, wie folgt: 
Art. 1. 
Das Vormundschaftsgericht kann zum Zweck der Erziehung eines sittlich verwahr- 
losten Minderjährigen die Unterbringung desselben in einer geeigneten Familie oder in 
einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt (Zwangserziehung) anordnen: 
1) wenn der Minderjährige vor Vollendung des zwölften Lebensjahres eine Hand- 
lung begangen hat, welche im Fall der Begehung durch einen Strafmündigen 
sich als Verbrechen oder Vergehen oder als eine Uebertretung im Sinne des 
§. 361 Ziff. 3 oder 4 des Strafgesetzbuchs (Landstreicherei oder Bettel) dar- 
stelen würde, und die Zwangserziehung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit 
der Handlung, auf die Persönlichkeit des Minderjährigen, seiner Eltern oder 
sonstigen Erzieher und auf seine übrigen Lebensverhältnisse zur Verhütung 
weiterer sittlicher Verwahrlosung erforderlich ist, oder 
2) wenn sonstige Thatsachen vorliegen, welche die Zwangserziehung zur Verhütung 
des völligen sittlichen Verderbens nothwendig machen. 
Die Zwangserziehung ist in diesen Fällen, sowie in den Fällen der S§. 1666 
Abs. 1 und 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuchs nur anzuordnen, wenn der Minderjährige 
das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat. 
Die Anorduung der Zwangserziehung kann in den Fällen des Abs. 1 Ziff. 1 und 2 
nur erfolgen, wenn die Erziehungsgewalt der Eltern oder sonstigen Fürsorger und die 
Zuchtmittel der Schule, sowie anderweitige, der Gefahr sittlicher Verwahrlosung des 
Minderjährigen vorbengende Maßregeln sich als unzulänglich erweisen und wenn dem 
Bedürfniß nach einer geordneten Erziehung nicht auf anderem Weg (durch die öffentliche 
Armenpflege oder die Vereinsthätigkeit) ausreichend entsprochen wird.
	        
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