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Gesetz,
beireffend die Zwangserziehung Minderjähriger. Vom 29. Dezember 1899.
Wilhelm II., von Gottes Gnaden König von Württemberg.
Nach Anhörung Unseres Staatsministeriums und unter Zustimmung Unserer
getreuen Stände verordnen und verfügen Wir, wie folgt:
Art. 1.
Das Vormundschaftsgericht kann zum Zweck der Erziehung eines sittlich verwahr-
losten Minderjährigen die Unterbringung desselben in einer geeigneten Familie oder in
einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt (Zwangserziehung) anordnen:
1) wenn der Minderjährige vor Vollendung des zwölften Lebensjahres eine Hand-
lung begangen hat, welche im Fall der Begehung durch einen Strafmündigen
sich als Verbrechen oder Vergehen oder als eine Uebertretung im Sinne des
§. 361 Ziff. 3 oder 4 des Strafgesetzbuchs (Landstreicherei oder Bettel) dar-
stelen würde, und die Zwangserziehung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit
der Handlung, auf die Persönlichkeit des Minderjährigen, seiner Eltern oder
sonstigen Erzieher und auf seine übrigen Lebensverhältnisse zur Verhütung
weiterer sittlicher Verwahrlosung erforderlich ist, oder
2) wenn sonstige Thatsachen vorliegen, welche die Zwangserziehung zur Verhütung
des völligen sittlichen Verderbens nothwendig machen.
Die Zwangserziehung ist in diesen Fällen, sowie in den Fällen der S§. 1666
Abs. 1 und 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuchs nur anzuordnen, wenn der Minderjährige
das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat.
Die Anorduung der Zwangserziehung kann in den Fällen des Abs. 1 Ziff. 1 und 2
nur erfolgen, wenn die Erziehungsgewalt der Eltern oder sonstigen Fürsorger und die
Zuchtmittel der Schule, sowie anderweitige, der Gefahr sittlicher Verwahrlosung des
Minderjährigen vorbengende Maßregeln sich als unzulänglich erweisen und wenn dem
Bedürfniß nach einer geordneten Erziehung nicht auf anderem Weg (durch die öffentliche
Armenpflege oder die Vereinsthätigkeit) ausreichend entsprochen wird.