58 I. Abschnitt. Von Rußland zu Großdritannien. 1887—1894.
Kaiser Wilhelm II. konnte sich 1888 und 1890 über die endgültige
Gestalt und Stärke der deutschen Flotte noch nicht klar sein. Dazu lag
alles noch viel zu sehr im Dunkeln, bestanden doch auch zu große Meinungs-
verschiedenheiten in Fachkreisen. Eine Hochseeflotte sollte jedenfalls ge-
schaffen werden als Kern der heimischen Streitkräfte, daneben zur Küsten-
verteidigung entsprechende Mengen von kleinen Fahrzeugen, Torpedo-
booten usw., und für den Schutz des überseeischen Handels an Ort und
Stelle eine größere Anzahl von Kreuzern. So waren die ersten Pläne
des Kaisers in Ubereinstimmung mit den damals in leitenden Stellungen
befindlichen Seeoffizieren. In Großbritannien waren diese Pläne nicht
unbekannt; schon beim Regierungsantritte Kaiser Wilhelms erging sich
die englische Presse in langen Ausführungen darüber. Oie führenden
Männer in Großbritannien empfanden aber keine Beunruhigung, ja nicht
einmal Mißfallen. Sie kannten die gänzliche Bedeutungslosigkeit der
deutschen Marine, sie wußten, wie deren Einrichtungen auf allen Gebieten
in den Anfängen staken, sie wußten vor allem, ein wie ungeheuer schwie-
riges, langwieriges und kostspieliges Werk es ist, eine leistungsfähige gute
Kriegsflotte zu schaffen und zu erhalten, wieviel Erfahrung, Weitblick,
Konsequenz und Hilfsmittel dazu notwendig sind.
Eine deutsche Flotte war nicht vorhanden, und zeitlich stand es in
unbestimmbarer Ferne, wie und wann sich die kaiserlichen Pläne ver-
wirklichen könnten. Während jener Periode der flottenlosen Zeit aber
lag der politische Gedanke nahe genug, bei eintretenden Gelegenheiten
mit einer Verwertung des deutsch-englischen Freundschaftsverhältnisses
gerade zur See rechnen zu können. Es hatte etwas Symbolisches an sich,
als im Jahre 1890 die englische Mittelmeerflotte — ihr Flaggschiff führte
den beute so berühmten Namen „Dreadnought“ — zusammen mit dem
deutschen Geschwader aus dem Piräus auslief, unter Führung der „Hohen-
zollern“, auf der die deutsche Kaiserstandarte wehte. Der Deutsche Kaiser,
als englischer „Admiral der Flotte“, ließ die vereinten deutschen und
englischen Geschwader nach seinen Signalen eine Zeitlang manörrieren;
ein einzigartiges Schauspiel! Es hat sich seitdem nicht wiederholt. Wollte
Oeutschland in jenen ersten Jahren eine Politik überseeischer und kolo-
nialer Expansion, so war die Zustimmung Englands notwendig, und
um so mehr, wenn man sich auf die englische Flotte stützen zu müssen
glaubte.
Wir baben gesehen, wie in dem deutsch-englischen Kamerunvertrage
Deutschland den Engländern gewissermaßen als Puffer gegen Frank-
reichs Expansion in Afrika dienen sollte, und wie kurz nachher daeselbe
befreundete England rücksichtslos über vertragliche Verpflichtungen hin-
wegzugehen versuchte und bereit war, den deutschen Interessen schweren