Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

104 2. Abschnitt. Weltpolitische Mühen ohne zureichende Mittel. 1895—1903. 
  
Wir geben hier auf die Meinungsstreitigkeiten, die sich in Deutschland 
darüber entwickelten, nicht ein, und hinsichtlich des Vertrages selbst sei 
auf den 1. Abschnitt verwiesen. Wir fragen hier nur: welchen Zweck die 
Veröffentlichungen des Fürsten Biemarck hatten und welchen sie er- 
reichten. Daß die Enthüllungen im deutschen Sinne geschadet hätten, 
kann schwerlich behauptet werden, denn der verantwortliche Träger der 
derzeitigen Politik, Graf Caprivi, war nicht mehr im Amte, und die Politik 
des Deutschen Reiches hatte die von Caprivi beschrittenen Wege: be- 
dingungslosen Anschluß an England, Zurückhaltung und Mißtrauen gegen 
Rußland! — bewußt verlassen. Wohl aber, und das bildete auch ihren 
Hauptzweck, war die Enthüllung geeignet, den Franzosen einen schla- 
genden Beweis für die Beweggründe zu geben, welche Rußland in ihre 
Arme getrieben hatten. Bis dahin war man in Frankreich überzeugt 
gewesen, daß diese russischen Beweggründe vor allem in der Furcht vor 
Deutschlands Machtstellung, in den Zielen der russischen Orient- und 
Balkanpolitik und in dem Hasse des Slawentumes gegen das Germanen- 
tum, schließlich auch auf dem Wunsche beruhten, gegen den deutsch-öster- 
reichischen Zweibund ein Gegengewicht zu schaffen, dessen Zweck nicht 
lediglich Berteidigung gegen Angriffe, sondern „Wiederherstellung des 
gestörten europäischen Gleichgewichtes“ bildeten. Daraus erklärte sich 
auch jene kampflustige Zuversicht Frankreichs, die man seit Beginn der 
neunziger Jahre in steigendem Maße beobachten konnte. 
Die Biemarckschen Enthüllungen nun belehrten nicht nur Frank- 
reich, sondern die ganze Welt eines Besseren. Sie lieferten den unwider- 
leglichen Beweis, daß Rußland nicht aus Haß gegen Oeutschland und 
mit dem Hintergedanken eines Krieges sich mit dem revanchelustigen 
Frankreich verbunden hatte, sondern weil es durch das Berfallenlassen 
des deutsch-russischen Neutralitätsvertrages isoliert worden war, haupt- 
sächlich England gegenüber, in zweiter Linie Österreich-Ungarn gegen- 
über, alles in allem, weil es für Rußland und seine Politik eine Lebensnot- 
wendigkeit bedeutete, festen Anschluß an eine europäische Großmacht zu 
gewinnen. 
Was den ZInhalt des französisch-russischen Bündnisvertrages anlangt, 
so wird er bis heute geheim gehalten. Wie im 1. Abschnitt auseinander- 
gesetzt worden ist und wie der Krieg 1914/15 bewiesen hat, steht fest, daß 
für das Eintreten des Bündniefalles ein erheblich größerer Spielraum 
gelassen worden war als im deutsch-österreichischen Bündnisse. Begriffe 
wie: Erhaltung und Herstellung des Friedens, Erhaltung und Herstellung 
des Eleichgewichtes waren sogenannte Kautschukbegriffe. In Wirklichkeit 
hat es sich immer um ein Schutz- und Trutzbündnis zwischen den beiden 
Mächten gehandelt.
	        
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