Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Faschoda — Manila — Samoa. 127 
  
Der neue Minister des Auswärtigen, Oelcassé, war zur Zeit des 
Faschodafalles erst seit kurzer Zeit an die Stelle seines Vorgängers Hano-- 
taur gekommen. Ourch den Zufall, daß der Ministerwechsel vor der 
Krisis erfolgt war, hat die Weltgeschichte vielleicht eine andere Wendung 
erhalten. Hanotaux, dessen Politik von vielen Franzosen als opportu- 
nistisch getadelt wurde, hatte England gegenüber wiederholt nicht nur 
eine scharfe Sprache geführt, sondern sich in seiner Kolonialpolitik auch 
durch englisches Mißfallen nicht beirren lassen. Er war Vertreter fran- 
zösischer Kolonialpolitik großen Stiles und bereit, zur Erreichung seiner 
kolonialen Ziele, so oft es vorteilhaft erschien, sich auch Deutschlands zu 
bedienen. Rußland, den Verbündeten Frankreichs und Gegner Eng- 
lands, wußte er als sicheren Rückhalt, und bei der deutschen Politik glaubte 
er nach den verschiedenen Borgängen in Ostasien und in Afrika gelegent- 
liche Bereitwilligkeit für eine antienglische Stellungnahme voraussetzen 
zu können. Ob und inwieweit gerade im letzten Jahre der Hanotaurschen 
Amtsführung Deutschland und Frankreich auf diesen Gebieten zusammen 
gearbeitet haben, entzieht sich genauer Kenntnis. Auf französischer Seite 
wurde behauptet, daß der deutsche Botschafter Graf Münster bei Hano- 
taux eine gemeinsame Aktion angeregt habe, welche die Selbständigkeit 
der portugiesischen Kolonien in Afrika gegen englische Protektionsgelüste 
garantieren sollte. Bevor Hanotaux habe antworten können, sei Oel- 
cassé an seine Stelle getreten, und dieser habe überhaupt nicht geant- 
wortet. Delcassé hat diese Geschichte in der Kammer ausdrücklich in Ab- 
rede gestellt; sie besaß auch wenig innere Wahrscheinlichkeit. 
Mit Delcassé kam ein Staatomann von neuer Richtung an die Spitze 
der auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs. R. Pinon in seinem Buche 
„France et Allemagne“ charakterisiert ihn (1915) als einen Mann, der vor 
seinem Amtsantritte in allen den politischen Gruppen und mit den- 
jenigen Diplomaten Fühlung hatte, welche die ODeutschland gegenüber 
gemäßigten französischen Kabinette mit ihren „SGefälligkeiten“ gegen 
Deutschland scharf mißbilligten. „Bon lauterem Patriotismus erfüllt, 
im Berein mit einem grenzenlosen Ehrgeiz, hatte er in seinem Berkehr 
mit den gambettistischen Kreisen den Gedanken der Nevanche in sich auf- 
genommen, ohne aber damit die Mäßigung zu vereinigen, welche Zeit 
und Nachdenken im Geiste des großen Tribunen hervorgebracht hatten; 
ohne ferner die Revoncheidee außerhalb und über der Tagespolitik zu 
halten. Obendrein ist Delcassé kein Staatsmann von Grundsätzen, nicht der 
Mann einer bestimmten Linie. Er ist Empiriker, die Ereignisse tragen ihn 
mehr, als daß er sie vorbereitete. Er ist aber geschickt in der Kunst, nach- 
träglich die von ihm gemachte Politik in guter Aufmachung vorzuzeigen, 
deren Idee er häufig der Inspiration und der glänzenden Phantasie-
	        
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