Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

128 2. Abschnitt. Weltpolltische Mühen ohne zureichende Mittel. 1895—1908. 
  
kraft Ar. Barrêres (Botschafter in Rom), sowie der Erfahrung und Au- 
torität Mr. Paul Cambons (Botschafter in London) verdankt. Klug und 
vorsichtig im Anfange seiner Aktionen, ließ er sich durch die scheinbaren 
Erfolge, die man ihm zuschrieb, blenden. Seine politischen Träume über- 
schritten das Maß, er sprach zuviel von ihnen, und die Realitäten bildeten 
einen zu peinlichen Gegensatz dazu. Oelcassé berauschte sich am Weibh-- 
rauche vorzeitigen Ruhmes, bis die Ereignisse es übernahmen, ihm in 
brutaler Weise das Gefühl jener dauernden Notwendigkeiten nahezu- 
legen, welche auf die französische Politik drücken.“ 
Oie folgenden sieben Fahre rücken die Person ODelcassés in den Vor- 
dergrund der politischen Geschichte Europas, im besonderen derjenigen 
des Deutschen Reiches. Hier sei zur Person nur gesagt, daß in dem an- 
geführten Urteil René Pinons manches richtig, das Urteil in seiner Ge- 
samtheit jedoch ungünstiger erscheint, als der Politiker Oelcassé es ver- 
dient. Auf alle Fälle ist man sich 1898 und während der folgenden Jahre 
in Deutschland nicht darüber klar gewesen, daß ein völlig anderer Geist 
mit dem Amtaantritte Delcassés in die auswärtige Politik Frankreichs 
eingezogen war. Ein anderer französischer Schriftsteller, Biktor Berard, 
erzählte in einer Pariser Zeitschrift 1905, Delcass habe im November 
1898 gesagt: „Ich möchte dieses Haus nicht verlassen und von meinem 
Ministerposten nicht weichen, ohne ein gutes Einvernehmen (la bonne 
entente) mit England bergestellt zu haben.“ Blicken wir auf die JZahre 
der ersten Delcasséschen Amtsführung zurück, so muß ihm zugestanden 
werden, daß er dieses sein Programm nicht nur festgehalten, sondern 
auch erfolgreich durchgeführt hat. 
Die Angelegenheit von Faschoda gab Delcassé Gelegenheit, gleich 
einen großen Schritt zur Verwirklichung seines Programms zu tun. 
Zm November 1898, nach Einlaufen des Marchandschen Berichtes, gab 
Frankreich den englischen Forderungen gegenüber nach. Oelcassé er- 
klärte in der Kammer: er habe für patriotisch gehalten, einen Konflikt 
zu vermeiden, der ein Unglück für die ganze Welt gewesen sein und Opfer 
gefordert haben würde, die außer Verhältnis zum Streitobjekte gestanden 
hätten. Auch in den Kammern herrschte die Stimmung vor, daß es gut 
sei, einen Konflikt mit Großbritannien vermieden zu haben, während 
die Offentlichkeit Frankreichs freilich tief niedergedrückt war. Es blieb 
weder in Frankreich noch in Europa ein Geheimnis, daß der franzö- 
sische Marineminister die völlige Unzulänglichkeit und Unbereitschaft 
der französischen Flotte erklärt hatte. Als Marchand im Frühjahr 1899 
nach Frankreich zurückgekehrt war und begeistert empfangen wurde, 
sagte er: „Mir empfanden die Erniedrigung Frankreichs, die in dem 
Augenblick erfolgte, wo es im Begriff stand, den Erfolg zu erzielen. Ooch
	        
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