Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

152 2. Abschnitt. Weltpolitische Mühen ohne zureichende Mittel. 1895—1908. 
  
treten, aber ebenso wie Frankreich dadurch seine Berpflichtungen gegen 
Rußland nicht verletze, so sei dasselbe von Italien gegenüber Oeutsch-- 
land und Österreich der Fall. 
Hier war also eine bedeutungsvolle politische Wendung eingetreten. 
Italien hatte beinahe ein Jahrzehnt lang unter den Folgen des Handels- 
krieges mit Frankreich gelitten. Nach der Schlacht bei Adua brach auch 
seine überseeische Politik bis auf weiteres zusammen, der nationale Schwung, 
der dem Volke bisher alle Lasten zu ertragen leicht gemacht hatte, wich 
schwerem Pessimiômus und Mißvergnügen. Man stöhnte über die Heeres- 
und Flottenlast, von der die franzosenfreundlichen Träger der Propa- 
ganda für einen „lateinischen“ Zusammenschluß sagten: sie erwüchse 
nur aus der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibunde. 
Der Minister Canevaro machte im Dezember 1898 sehr charakteristische 
Ausführungen, die ein überraschendes Schlaglicht warfen auf die Wand- 
lung der führenden politischen Geister in Italien während der letzten 
zehn Jahre. Bom Handelsvertrage mit Frankreich sagte er: „Wäh- 
rend wir uns bemühen, die guten Beziehungen mit allen Staaten zu pflegen 
und zu festigen, müssen wir besonders glücklich über das Handelsabkommen 
sein, das dank wechselseitigen guten Willens, hohen Billigkeitssinnes 
auf beiden Seiten kürzlich mit Frankreich abgeschlossen werden konnte. 
Dieses Abkommen hat, während es zugleich wichtigen wirtschaftlichen 
Interessen der beiden Länder Genüge tut, die Wirkung — dazu haben 
wir das Vertrauen —, die letzten Spuren von Mißverständnissen ver- 
schwinden zu lassen und eine Lage gegenseitiger Herzlichkeit und Freund- 
schaft zu schaffen, wie es Völkern zukommt, welche Gemeinschaft der 
Rasse und der Kulturentwicklung besitzen.“ 
Über den Oreibund äußerte sich der Minister unter Bezugnahme 
auf die kretensische Angelegenheit sehr kühl, man habe in dieser Mittel- 
meerangelegenheit das Ausscheiden Osterreichs und des Deutschen Reiches 
nicht bemerkt. Im Frühjahr des folgenden Jahres konnte der gleiche 
Minister feststellen: er habe Bersicherungen, 1. daß weder jetzt, noch 
in Zukunft irgendeine Unternehmung Frankreichs und Englands gegen 
Tripolis zu fürchten sei; 2. daß nichts geschehen werde, was die Handels- 
beziehungen zwischen den Gebieten von Tripolis und Zentralafrika unter- 
binden könnte. 
Nun kam die Angelegenheit von Faschoda. Sie lieferte aller Welt 
und auch Italien den Beweis, daß Frankreich nicht daran denke, noch je- 
male wagen würde, gegen den englischen Stachel zu löken. Daraus ergab 
sich für die italienischen Staatsmänner der Schluß, daß die französische 
Freundschaft für IZtalien nicht als bedrückende Vormundschaft auftreten 
könne, solange England auf seinem alten Standpunkte binsichtlich Ztalieno
	        
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