152 2. Abschnitt. Weltpolitische Muhen ohne zureichende Mittel. 1895—1908,
1900 ebensowenig wie heute. Der britische Verstoß konnte auögespro-
chener- und anerkanntermaßen nur darin liegen, daß auf bloße Verdachts-
gründe hin ein Reichspostdampfer angehalten und durchsucht wurde.
Wie der Deutsche Reichskanzler damals auf eine Interpellation erklärte,
war ein Recht zur See nicht vorhanden, oder, wie er sich ausdrückte, sehr
flüssig und sehr dehnbar. Auf dem Gebiete des Seerechtes sei der Macht-
standpunkt immer noch vor dem Rechtsstandpunkte gültig.
Die britische Regierung erkannte auf die deutschen Forderungen
bin ihre Schadensersatzpflicht an, erließ Instruktionen, daß Anhalten und
Durchsuchen von Schiffen nur in der Nähe des Kriegeschauplatzes statt-
finden dürfte, daß deutsche Postdampfer nicht auf bloßen Verdacht hin
anzuhalten seien. Schließlich gab die britische Regierung ihrem Be-
dauern über den Vorfall Ausdruck. An die Erörterungen dieser Beschlag-
nahmen und ihrer Erledigung schloß der Deutsche Kanzler seine schon
erwähnte indirekte Antwort auf die Bündnisrede Chamberlains: daß die
Aufrechterhaltung freundlicher Beziehungen mit England nur auf der
Basis voller Parität und gegenseitiger Rücksichtnahme möglich sei.
Die Dampferbeschlagnahmen und ihre langsame Erledigung paßten
also wie die Faust aufs Auge zu den britischen Freundschafts- und Bünd-
niswünschen, die schon deshalb echt waren, weil sie tatsächlichen politischen
Besorgnissen und Bedürfnissen entsprachen. Rein politisch betrachtet
bedeutete das englische Verhalten gegenüber den deutschen Schiffen
eine große Ungeschicklichkeit und ist später in England selbst auch so be-
zeichnet worden.
Der Schritt zur deutschen Hochseeflotte.
Im Spätdberbste des Zahres 1899 wurde im Oeutschen Reichsan-
zeiger auf die Notwendigkeit hingewiesen, den Weltereignissen durch
eine verstärkte Steigerung der deutschen Seemacht Rechnung zu tragen.
Schon Monate vorher liefen Gerüchte um, daß nach dem Urteile der
maßgebenden Stellen das Flottengesetz des Jahres 1898 auch nach seiner
völligen Durchführung nicht annähernd imstande sein werde, den Be-
dürfnissen der Wehrkraft des Deutschen Reiches zur See zu genügen.
Am 18. Oktober 1899 bielt der Deutsche Kaiser zur Taufe des Schlacht-
schiffes „Kaiser Karl der Große“ eine Aufsehen erregende Rede, ge-
kennzeichnet durch das später viel zitierte Wort: „Bitter not ist uns eine
starke deutsche Flotte.“ Zene Rede enthielt außerdem Ausführungen,
die in einer Betrachtung der neuesten politischen Entwicklung des Oeut-
schen Reiches schon deshalb nicht fehlen dürfen, weil ihnen geschicht-
liche Bedeutung auch an sich zukommt: die Hamburger Rede des Kaisers