Oer Schritt zur deutschen Hochseeflotte. 155
Bülow zeigt übrigens, daß er sich gerade England gegenüber nicht ge-
scheut hat, das Mißfallen der dortigen öffentlichen Meinung und der
leitenden Männer zu erregen, sobald es ihm nützlich erschien. Es ist des-
halb ebensowenig möglich, jene vielbesprochene Reise des Kaisers als
unrichtig zu tadeln, wie ihre Gründe und Zwecke eingehend zu prezi-
sieren. Allgemein, kann man nur sagen, war es für die Zwecke der deut-
schen Politik, welche sie, besonders in Ostasien, zu verfolgen gedachte,
erwünscht, mit Großbritannien in freundlichen Beziehungen zu bleiben,
um so mehr, als Fürst Bülow entschlossen war, die ostasiatische Politik
Rußlands teils zu unterstützen, teils nicht zu hindern.
Schließlich mag mit maßgebend gewesen sein, daß die deutsche Reichs-
regierung es für vorteilhaft hielt, in dem Augenblicke nicht ohne Not
das Mißtrauen Großbritanniens zu erregen, wo man daran ging, die
Grundlagen für eine große deutsche Seemacht zu fügen, deren Haupt-
zweck war, der britischen Ubergewalt zur See allmählich einen Macht-
faktor entgegenzusetzen, den zu beachten und zu achten sie gezwungen
wäre. —
In den ersten Tagen des Jahres 1900 wurde die neue Flottenvorlage
veröffentlicht. Sie stellte rund eine Berdoppelung des im Gesetze von
1898 geforderten Sollbestandes der Flotte dar. Das Gepräge des neuen
Flottenplanes war insofern neu und charakteristisch, als er nunmehr den
Schwerpunkt völlig auf die Entwickelung der Hochseeschlachtflotte legte.
Die Kategorie des Küstenpanzerschiffes war ausgemerzt und die Be-
messung der für das Ausland bestimmten Schiffe sehr bescheiden. Für die
heimische Schlachtflotte dagegen verlangte die Vorlage eine Sollstärke
von 38 Linienschiffen, vierzehn Panzerkreuzern, eine Anzahl von kleinen
Kreuzern wie Torpedofahrzeugen. ODer militärische Grundgedanke die-
ses großen Organisationsplanes war: in den heimischen Gewässern fällt
die Entscheidung über alle Streitfragen, welche überhaupt die Tätigkeit
der Flotte berühren. Deshalb muß dort der Schwerpunkt ihrer Kraft
liegen. Die Begründung, welche der Staatssekretär des Reichs-Marine--
Amts, Admiral von Tirpitz, seiner Vorlage beigab, entbielt u. a. die
folgenden Sätze, die im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte welt-
berühmt geworden sind:
„Um unter den bestehenden Berhältnissen Deutschlands Seehandel
und Kolonien zu schützen, gibt es nur ein Mittel: Deutschland muß eine
so starke Schlachtflotke besitzen, daß ein Krieg auch für den seemächtigsten
Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, daß seine eigene Macht-
stellung in Frage gestellt wird. Zu diesem Zwecke ist es nicht unbedingt
erforderlich, daß die deutsche Schlachtflotte ebenso stark ist wie die der
größten Seemacht, denn eine große Seemacht wird im allgemeinen nicht