Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Oer Schritt zur deutschen Hochseeflotte. 155 
  
Bülow zeigt übrigens, daß er sich gerade England gegenüber nicht ge- 
scheut hat, das Mißfallen der dortigen öffentlichen Meinung und der 
leitenden Männer zu erregen, sobald es ihm nützlich erschien. Es ist des- 
halb ebensowenig möglich, jene vielbesprochene Reise des Kaisers als 
unrichtig zu tadeln, wie ihre Gründe und Zwecke eingehend zu prezi- 
sieren. Allgemein, kann man nur sagen, war es für die Zwecke der deut- 
schen Politik, welche sie, besonders in Ostasien, zu verfolgen gedachte, 
erwünscht, mit Großbritannien in freundlichen Beziehungen zu bleiben, 
um so mehr, als Fürst Bülow entschlossen war, die ostasiatische Politik 
Rußlands teils zu unterstützen, teils nicht zu hindern. 
Schließlich mag mit maßgebend gewesen sein, daß die deutsche Reichs- 
regierung es für vorteilhaft hielt, in dem Augenblicke nicht ohne Not 
das Mißtrauen Großbritanniens zu erregen, wo man daran ging, die 
Grundlagen für eine große deutsche Seemacht zu fügen, deren Haupt- 
zweck war, der britischen Ubergewalt zur See allmählich einen Macht- 
faktor entgegenzusetzen, den zu beachten und zu achten sie gezwungen 
wäre. — 
In den ersten Tagen des Jahres 1900 wurde die neue Flottenvorlage 
veröffentlicht. Sie stellte rund eine Berdoppelung des im Gesetze von 
1898 geforderten Sollbestandes der Flotte dar. Das Gepräge des neuen 
Flottenplanes war insofern neu und charakteristisch, als er nunmehr den 
Schwerpunkt völlig auf die Entwickelung der Hochseeschlachtflotte legte. 
Die Kategorie des Küstenpanzerschiffes war ausgemerzt und die Be- 
messung der für das Ausland bestimmten Schiffe sehr bescheiden. Für die 
heimische Schlachtflotte dagegen verlangte die Vorlage eine Sollstärke 
von 38 Linienschiffen, vierzehn Panzerkreuzern, eine Anzahl von kleinen 
Kreuzern wie Torpedofahrzeugen. ODer militärische Grundgedanke die- 
ses großen Organisationsplanes war: in den heimischen Gewässern fällt 
die Entscheidung über alle Streitfragen, welche überhaupt die Tätigkeit 
der Flotte berühren. Deshalb muß dort der Schwerpunkt ihrer Kraft 
liegen. Die Begründung, welche der Staatssekretär des Reichs-Marine-- 
Amts, Admiral von Tirpitz, seiner Vorlage beigab, entbielt u. a. die 
folgenden Sätze, die im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte welt- 
berühmt geworden sind: 
„Um unter den bestehenden Berhältnissen Deutschlands Seehandel 
und Kolonien zu schützen, gibt es nur ein Mittel: Deutschland muß eine 
so starke Schlachtflotke besitzen, daß ein Krieg auch für den seemächtigsten 
Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, daß seine eigene Macht- 
stellung in Frage gestellt wird. Zu diesem Zwecke ist es nicht unbedingt 
erforderlich, daß die deutsche Schlachtflotte ebenso stark ist wie die der 
größten Seemacht, denn eine große Seemacht wird im allgemeinen nicht
	        
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