Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

170 2. Abschnitt. Weltpolitische Mühen ohne zureichende Mittel. 1895—1903. 
einbarungen anderen Mächten gegenüber, wenn die Integritätsver- 
letzung durch eine andere Macht erfolgen sollte. — In diesen Wendungen 
lag also der sehr bedeutende Borbehalt eingeschlossen, daß Rußland allein 
und ohne andere Mächte zu fragen darüber entscheiden werde, wann 
es die Integrität Chinas verletzt erachte, und wie es sich zu dieser Ver- 
letzung stellen werde. 
Als nach dem Friedensvertrage von Peking und nach Beruhigung 
der Provinz Cschili die Mächte ihre Truppen aus China zurückzogen, 
behielt Rußland seine Streitkräfte in der Mandschurei und verstärkte sie 
sogar an verschiedenen Punkten. Man glaubte in St. Petersburg den 
Augenblick gekommen, um mit einem Schlage die Mächte vor eine voll- 
endete Tatsache zu stellen und eine „Mandschureifrage“ überhaupt nicht 
aufkommen zu lassen. Die russische Regierung versuchte, China zu einem 
Sondervertrage über die Mandschurei zu veranlassen. Der Wortlaut 
des Vertragsentwurfes ist nicht veröffentlicht worden, es soll sich aber 
um folgende Punkte gehandelt haben: Oie russische Regierung ging von 
der Voraussetzung aus, daß während der verflossenen Aufstände in China 
die chinesische Regierung in allen übrigen Provinzen des Reiches mit 
allen Mächten zu tun gehabt habe, in der Mandschurei jedoch ausschließlich 
mit Rußland, wie die Mandschurei ja überhaupt im Chinesischen Reiche-' 
eine Sonderstellung einnähme. Rußland verlangte demgemäß von China 
die Aufsicht über die Verkehrswege, ferner die Landespolizei, die Ver- 
waltung usw. Eleichzeitig wurde freilich die Fiktion aufrechterhalten, 
daß später einmal die Mandschurei von russischen Truppen geräumt 
werde; wann? — das ließ man in dieser russisch-chinesischen Zwiesprache 
ganz auf sich beruhen, und die Chinesen waren klug genug, zu wissen, 
was das bedeutete. Oie chinesische Regierung hat, wahrscheinlich in- 
offiziell, den übrigen Mächten, in erster Linie Japan und England, Kennt- 
nis vom russischen Ansinnen gegeben. IZn England erzeugten diese Nach- 
richten große Sorge und Erregung. Im Frühjahr 1901 wurde die Frage 
eines russisch-chinesischen Mandschureiabkommens im Unterhause er- 
örtert und an die Regierung die Frage gestellt, ob Deutschland, Groß- 
britannien und Japan Einspruch gegen die NRatifizierung des Abkommens 
erhoben hätten, da dieses Rußland einen beherrschenden Einfluß in der 
Mandschurei unter Ausschluß aller anderen Nationen gewähren würde. 
Der Vertreter der Regierung gab die Antwort: die Angelegenheit unter- 
liege der ernstesten Aufmerksamkeit der Regierungen und sei Gegenstand 
diplomatischer Verhandlungen zwischen den Mächten. 
Oie kurze Zeitspanne, welche diese diplomatischen Berhandlungen 
einschloß, ist wahrscheinlich für die Richtung der deutschen Politik während 
der kommenden zehbn JZahre und besonders für die deutsch-englischen
	        
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