192 3. Abschnstt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908.
ob jener Plan — der durch sein öffentliches Bekanntwerden vereitelt
wurde — sehr geschickt angelegt gewesen ist, aber sein Vorhandensein
war bezeichnend für die Betriebsamkeit, mit der Delcassé die dreibund-
feindlichen Bestrebungen in Österreich-Ungarn, besonders in Ungarn, im
französischen Interesse auszunutzen versuchte.
Gegen den Dreibund wurde von seinen Gegnern mit Hochdruck ge-
arbeitet. Die Erneuerung des Vertrages stand für das Jahr 1902 bevor,
und in Frankreich glaubte man den Augenblick gekommen, ihn sprengen
zu können. Man setzte besondere Hoffnungen auf die Folgen des Mi-
nisterwechsels in Ztalien, zumal der neue Minister des Auswärtigen, Herr
Prinetti, Anfang der neunziger Zahre sich als Gegner der Oreibund-
politik erklärt hatte. Es war bezeichnend, daß man kurz nach dem italie-
nischen Ministerwechsel in dem halbamtlichen deutschen Organe, der
„Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“, für nötig bielt, gegen die Le-
genden Front zu machen, welche über den Inhalt des Oreibundes von
französischer Seite in Umlauf gebracht wurden. Das genannte Blatt
stellte fest: Die Berbündeten Italiens hätten niemals Italien Bedingungen
oder Wünsche wegen Verwendung der italienischen Armee auferlegt;
der Dreibundvertrag lasse allen drei Mächten volle Freiheit in der Fest-
setzung ihrer Streitkräfte, sie könnten diese auch vermindern, wenn sie
wollten; die Festsetzung der Streitkräfte sei eine innere Angelegenheit
der betreffenden Staaten. Es sei also eine Legende, wenn behauptet
werde, daß Italien Finanzschwierigkeiten aus Dreibundverpflichtungen
erwachsen seien. Solche Berpflichtungen gäbe es eben nicht. — Das
waren gerade diejenigen Argumente, mit denen die italienischen und fran-
zösischen Dreibundfeinde arbeiteten: Italien werde durch die Oreibund-
verpflichtungen finanziell ruiniert, und der Dreibundvertrag verpflichte
es, gegen das befreundete Frankreich zu marschieren. Ein italienisch-
französisches Argument war es auch, welches der rabiat irredentistisch
gesinnte italienische Deputierte Herr Barzilai im Sommer 1901 geltend
machte: Der Oreibund habe ZItalien das „SEleichgewicht im Mittellän-
dischen und Adriatischen Meere“ nicht verbürgen können, er habe auch
nicht verhindert, daß Rußland und ÖOsterreich sich die Balkanhalbinsel
„geteilt hätten“ und auf Verdrängung Ztaliens aus dem Oriente ar-
beiteten (das Mürzsteger Abkommen 1903). Damit wurde eine neue
Seite der italienischen Politik in prägnanter Weise hervorgehoben: das
„Gleichgewicht im Adriatischen Meere“ und Ansprüche Ztaliens auf die
albanische Küste.
An anderer Stelle wurde ausgeführt, wie vor dem Berliner Kon-
gresse Bismarck und Lord Derby Italien Albanien anboten, und wie
durch eine fehlerhafte Politik die derzeitigen leitenden Staatsmänner