Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

210 3. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908. 
  
Regierung. Während verschiedener Revolutionen in den letzten Jahren 
waren zahlreiche Deutsche, die in BVenezuela wohnten, durch Diebstahl, 
Raub, Erpressung und erzwungene Anleihen schwer geschädigt worden. 
Außerdem hatten deutsche Firmen und Banken erdbebliche Ansprüche 
an die venezolanische Regierung aus Eisenbahn- und anderen öffent- 
lichen Bauten. Die deutsche Reichsregierung lehnte ein Dekret der vene- 
zolanischen Regierung ab, das einen Teil der sämtlich vollbegründeten 
Ansprüche unberücksichtigt lassen, jeden diplomatischen Einspruch ausschließen 
und die Entschädigungen nur aus einer neu aufzunehmenden Anleibe 
einer „Revolutionsschuld“ in Gestalt besonderer Scheine bezahlen wollte. 
Diese Scheine wären aller Voraussicht nach annähernd wertlos gewesen. 
Die deutsche Regierung versagte dem Oekrete also ihre Anerkennung, 
und ähnlich äußerten sich Großbritannien, die Vereinigten Staaten, 
Ztalien, Spanien und die Niederlande. Benezuela blieb aber intran- 
sigent und verweigerte eine Erledigung der ausländischen Reklamationen 
auf diplomatischem Wege überhaupt, man wollte sie lieber nach dort 
gewohnter Art „regeln“. Wegen dieser völkerrechtswidrigen Stellung- 
nahme, und um die Stellung der in Benezuela wohnenden Deutschen 
nicht vollkommen schutzlos werden zu lassen, erfolgte das deutsche UAlti- 
matum. Es verlangte sofortige Zahlung der Reklamationen bis 1900 
und eine sicherheitgebende Auskunft über die Regelung der übrigen 
deutschen Forderungen. Die Regierung von Venezuela, an deren Spitze 
der Präsident Castro sich gestellt hatte, ließ das Ultimatum unbeachtet. 
Dieses Ultimatum war von Oeutschland und Großbritannien ver- 
eint gestellt worden. Darin lag das Moment, welches von der englischen 
Bevölkerung mit äußerstem Mißfallen bemerkt und getadelt wurde. Was 
für deutsch-englische Berhandlungen diesem gemeinsamen Vorgehen vor- 
ausgegangen sind, ist der Offentlichkeit nicht bekannt geworden. Immerhin 
kann man annehmen, daß die Znitiative von der deutschen Regierung 
ausgegangen war. Man hat ihr daraus einen Vorwurf gemacht und 
gesagt, sie hätte auf eigene Hand, ohne sich an England zu kehren, ihre 
Maßnahmen treffen sollen, zumal anscheinend die britische Regierung 
gezögert habe, ebe sie sich anschloß. Anderseits läßt sich aber nicht be- 
streiten, daß ein isoliertes Borgehen des Deutschen Reiches starke Be- 
denken gegen sich gehabt haben würde. Der Verlauf der Benezuelaange- 
legenheit bewies das auf indirektem Wege. 
Politisch kam für die Beurteilung des ganzen Unternehmens auch 
die Stimmung der Nordamerikanischen Union in Betracht. Die über- 
mäßige Empfindlichkeit, die Abneigung und Mißgunst der Bereinigten 
Staaten, insbesondere ihrer öffentlichen Meinung, hatte Deutschland oft 
an sich erfahren. Die Samoadifferenzen, die Ereignisse während des
	        
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