212 5. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908.
wenn die zivilisierte Welt auf seiten einer solchen stände. Man müsse, so
meinte der britische Botschafter, in Washington den Präsidenten nunmehr
dahin aufklären, und zwar in Form einer Kollektionote, daß die zivili-
sierte Welt gegen die Intervention sei bzw. den Angriff nicht billige. Der
deutsche Botschafter hatte zum Schlusse seines telegraphischen Berichtes
geschrieben: „Ich persönlich stehe einer solchen Kundgebung ziemlich
kühl gegenüber.“ Der Reichskanzler billigte dieses Urteil durch seine
Unterschrift. Der Deutsche Kaiser aber hatte die Randbemerkung ge-
macht: „Ich halte die Kundgebung für gänzlich verfehlt, zwecklos und
daher schädlich. Ich bin gegen diesen Schritt!“
Oiese Veröffentlichung erregte ein um so größeres Aufsehen, als die
Verdächtigung der deutschen Neutralität während jenes Krieges und
nachher vor allem und unermüdlich von der Presse Großbritanniens ge-
pflegt wurde. Bald darauf wurde der Gegenstand im britischen Unter-
hause zur Sprache gebracht. Der Unterstaatssekretär des Auswärtigen,
Lord Cranborne, erklärte, daß jene Aktion in Washington auf rein per-
sönliche Initiative des dortigen britischen Botschafters ins Werk gesetzt
worden sei, und daß die Regierung sich zwei Tage darauf entschlossen habe,
seiner Anregung nicht Folge zu geben. Von der Haltung der deutschen
Regierung habe man damals keine Kenntnis gebabt. Auf die Frage
eines Parlamentemitgliedes, ob jene eben veröffentlichte deutsche Dar-
stellung zutreffend sei, antwortete Cranborne nicht.
Es lag klar zutage, daß das Gewissen der britischen Regierung in der
Angelegenheit nicht rein war. Bermutlich war während des Krieges ihre
Absicht gewesen, seitens des britischen Botschafters in Washington jene
Mißbilligungsaktion durch andere Mächte in Fluß zu bringen, sich selbst
aber dann durch Mißbilligung der Aktion von ihr zurück und aus der
Affäre berauszuziehen. Es liegt auf der Hand, daß jenes nachträgliche
Aufdecken der Karten durch den „Deutschen Reichsanzeiger“ auf Groß-
britannien verstimmend wirken mußte. Alnderseits war verständlich
und gerechtfertigt, daß die deutsche Regierung gerade jetzt, unmittelbar
vor der Abreise des Prinzen Heinrich die Gelegenheit ergriff, um die in
den Vereinigten Staaten allgemein geglaubte Legende von deutschen
Interventionsabsichten zu zerstören.
Diese Episode und die der Prinzenreise mit allen ihren Liebenswürdig-
keiten, Reden und Telegrammen lag nicht länger als dreiviertel Jahr
zurück, als die venezolanische Aktion sich als notwendig erwies. Man
wußte, daß England und die anderen Staaten ähnliche dringende und
begründete Forderungen an Benezuela hatten wie das Deutsche Reich,
man kannte das amerikanische Steckenpferd, die Monroedoktrin, und
konnte sich mit leichter Mühe ausrechnen, daß eine einseitige deutsche