Venezuela — Die Vereinigten Staaten. 215
erscheinungen der BVenezuelaangelegenheit. Sie zeigten unverhüllte
Feindseligkeit der britischen Bevölkerung, die es schon als eine Beleidi-
gung ansah, auf irgendeinem Gebiete und zu irgendeinem Zwecke Seite
an Seite mit Deutschland zu stehen. Es zeigte sich auch, wie weit die
Stimmung der Bereinigten Staaten schon durch die britischen Ber-
hetzungen beeinflußt worden war. Bergessen war der Enthusiasmus über
die Reise des Prinzen Heinrich, spurlos vorübergegangen war die Ver-
öffentlichung jener dokumentarischen Beweise für die deutsche Loyalität
und für die britische Zllopalität während des Spanischen Krieges. Kein
Gerede von deutschen Eroberungsabsichten jenseits des Atlantischen Ozeans
war zu grotesk, als daß es nicht von den Amerikanern geglaubt worden
wäre, wohingegen die klaren Darlegungen des Gegenteils auf deutscher
Seite von der öffentlichen Meinung der Bereinigten Staaten ignoriert
oder für raffinierte Heuchelei gehalten wurden. In Columbien und Bra-
silien, in Paraguay und in Australien, überall erschienen Presseäußerungen
von irgendwelchen „Wissenden“, die irgendeinen deutschen Eroberungs-
plan als sicher vorhanden erklärten und ihn in allen seinen Einzelbeiten
zu beschreiben wußten. In Deutschland gingen die amerikanischen Presse-
vertreter umher, interviewten deutsche Politiker und Fachleute darüber,
welche Küstenpunkte des amerikanischen Kontinentes, welche Inseln der
dortigen Küstengewässer dem Deutschen Reiche besonders wünschenswert
erschienen, und machten listig-ungläubige Gesichter, wenn ihnen ver-
sichert wurde, daß solche Absichten nicht beständen. Die amtlichen Be-
ziehungen zwischen den Regierungen der beiden Mächte waren dabei
normale. Im Sommer 1903 erschien ein amerikanisches Geschwader
zum Besuche im Kieler Hafen als Erwiderung der Prinzenreise des ver-
gangenen Winters.
Auf der anderen Seite verbargen aber während der VBenezuela-
affäre auch die Regierungskreise in Washington nicht ihr Mißbehagen
darüber, daß europäische Mächte die Häfen eines amerikanischen Staates
blockierten, Küstenforts zerstörten und teilweise Truppen landeten. Für
dieses Mißbehagen war wohl weniger die Furcht der Grund, Deutsch-
land wolle die Gelegenheit benutzen, um festen Fuß zu fassen, alse viel-
mehr das Gefühl: die Autorität der Vereinigten Staaten gegenüber den
anderen Staaten des amerikanischen Kontinentes werde durch solches
Eingreifen dritter Mächte geschädigt und in Frage gestellt. Deutschland
und England kamen diesen Gefühlen entgegen. Für die Durchführung
eines Teiles des deutsch-englisch-venezolanischen Abkommens konnte der
Gesandte der Vereinigten Staaten in Caracas, Mr. Bowen, als Bevoll-
mächtigter Venezuelas fungieren. Mr. Bowen entledigte sich dieser seiner
Obliegenheiten mit großem Selbstgefühl und mit wenig Beachtung der