Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Venezuela — Die Vereinigten Staaten. 215 
  
erscheinungen der BVenezuelaangelegenheit. Sie zeigten unverhüllte 
Feindseligkeit der britischen Bevölkerung, die es schon als eine Beleidi- 
gung ansah, auf irgendeinem Gebiete und zu irgendeinem Zwecke Seite 
an Seite mit Deutschland zu stehen. Es zeigte sich auch, wie weit die 
Stimmung der Bereinigten Staaten schon durch die britischen Ber- 
hetzungen beeinflußt worden war. Bergessen war der Enthusiasmus über 
die Reise des Prinzen Heinrich, spurlos vorübergegangen war die Ver- 
öffentlichung jener dokumentarischen Beweise für die deutsche Loyalität 
und für die britische Zllopalität während des Spanischen Krieges. Kein 
Gerede von deutschen Eroberungsabsichten jenseits des Atlantischen Ozeans 
war zu grotesk, als daß es nicht von den Amerikanern geglaubt worden 
wäre, wohingegen die klaren Darlegungen des Gegenteils auf deutscher 
Seite von der öffentlichen Meinung der Bereinigten Staaten ignoriert 
oder für raffinierte Heuchelei gehalten wurden. In Columbien und Bra- 
silien, in Paraguay und in Australien, überall erschienen Presseäußerungen 
von irgendwelchen „Wissenden“, die irgendeinen deutschen Eroberungs- 
plan als sicher vorhanden erklärten und ihn in allen seinen Einzelbeiten 
zu beschreiben wußten. In Deutschland gingen die amerikanischen Presse- 
vertreter umher, interviewten deutsche Politiker und Fachleute darüber, 
welche Küstenpunkte des amerikanischen Kontinentes, welche Inseln der 
dortigen Küstengewässer dem Deutschen Reiche besonders wünschenswert 
erschienen, und machten listig-ungläubige Gesichter, wenn ihnen ver- 
sichert wurde, daß solche Absichten nicht beständen. Die amtlichen Be- 
ziehungen zwischen den Regierungen der beiden Mächte waren dabei 
normale. Im Sommer 1903 erschien ein amerikanisches Geschwader 
zum Besuche im Kieler Hafen als Erwiderung der Prinzenreise des ver- 
gangenen Winters. 
Auf der anderen Seite verbargen aber während der VBenezuela- 
affäre auch die Regierungskreise in Washington nicht ihr Mißbehagen 
darüber, daß europäische Mächte die Häfen eines amerikanischen Staates 
blockierten, Küstenforts zerstörten und teilweise Truppen landeten. Für 
dieses Mißbehagen war wohl weniger die Furcht der Grund, Deutsch- 
land wolle die Gelegenheit benutzen, um festen Fuß zu fassen, alse viel- 
mehr das Gefühl: die Autorität der Vereinigten Staaten gegenüber den 
anderen Staaten des amerikanischen Kontinentes werde durch solches 
Eingreifen dritter Mächte geschädigt und in Frage gestellt. Deutschland 
und England kamen diesen Gefühlen entgegen. Für die Durchführung 
eines Teiles des deutsch-englisch-venezolanischen Abkommens konnte der 
Gesandte der Vereinigten Staaten in Caracas, Mr. Bowen, als Bevoll- 
mächtigter Venezuelas fungieren. Mr. Bowen entledigte sich dieser seiner 
Obliegenheiten mit großem Selbstgefühl und mit wenig Beachtung der
	        
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