Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Die Entente Cordiale — Marokko — Hull — Kiel. 229 
  
zösischen Kolonialbesitz waren den französischen Kolonialpolitikern wohl 
klar, aber man rechnete vorläufig nicht mit einer Verwirklichung. Zeden- 
falls: gegen England Marokko zu gewinnen, stand außer Betracht. Man 
begnügte sich, den französischen Einfluß in Fes jeweilig nach Möglichkeit 
zur Geltung zu bringen, das Land wurde nach allen Richtungen durch- 
forscht, und nach bewährter Methode wurden Einfälle marokkanischer 
Grenzstämme nach Algier hinein arrangiert, denen dann Strafexpedi- 
tionen folgten und für weitere Grenzverschiebungen sorgten. Nachdem 
Delcassé ans Ruder gekommen war, benutzte er den Burenkrieg, um die 
auf marokkanischem Gebiete liegenden Oasen von Tuat, Aigli und Sus- 
fana dem algerischen Gebiete anzugliedern. 
Damals wurde ein französischer Staatsangehöriger in Marokko er- 
mordet, und Delcassé bediente sich dieser Gelegenheit, um eine drohende 
Note an den Sultan zu richten. Die marokkanischen NRiffpiraten hatten 
einen französischen Kaufmann ermordet, und ein Brief des Sultans fiel 
den Franzosen in die Hände, in dem dieser den Tuatstämmen anempfahl, 
den Franzosen Grenzschwierigkeiten zu machen. Ob jener Brief echt 
war, und wie er zustande gekommen ist, steht dabin, jedenfalls wurde der 
Sultan auf die Drohungen des französischen Gesandten hin von Schrecken 
ergriffen, gelobte Nachgiebigkeit und die Entsendung eines Sonder- 
gesandten nach Paris. Die Annexion der genannten Oasen war die Folge. 
Frankreich schloß durch jenen Gesandten eine Art Abkommen mit Marokko, 
in dem es auf der einen Seite die Achtung der Integrität Marokkos ver- 
bürgte. Auf der anderen Seite wurde die Nachbarschaft der beiden Län- 
der als Grundlage für ihre Beziehungen bezeichnet. Ourch den fran- 
zösischen Gesandten aber ließ Delcassé dem Sultan sagen, daß Frank- 
reich für Marokko der beste und sicherste, für die marokkanische Integrität 
am meisten besorgte Freund, aber auch der furchtbarste aller für Marokko 
denkbaren Feinde sein könne. In diesen Wendungen lag die Idee eines 
französischen Protektorates schon enthalten. 
Im Hochsommer 19053, so kann man annehmen, war das Marokko- 
abkommen mit England bereits seinem materiellen Inhalte nach ver- 
einbart. Vorher allerdings hatte Delcassé einen Versuch gemacht, ohne 
Großbritanniens Mitwirkung zu einer Teilung Marokkos mit Spanien 
zu gelangen. Man erzählt, daß auch Deutschland hätte daran beteiligt 
werden sollen, ja, daß die französische Regierung bereit gewesen wäre, 
dem Deutschen Reiche einen Teil des atlantischen Marokko zu überlassen. 
Da nie etwas Authentisches hierüber bekannt geworden ist, so kann keine 
Stellung dazu genommen werden. Oie Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, 
aber eine ernste Wahrscheinlichkeit besteht kaum. Sie liegt weder im Rah- 
men der Delcasséschen Gesamtpolitik, noch der des Deutschen Neiches,
	        
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