232 3. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908.
eine Reihe von Differenzpunkten, die zwischen England und Frankreich
bestanden, auf dem Wege gütlicher Verständigung aus der Welt zu räu-
men.“ Dagegen könne man vom deutschen Standpunkte nichts einzu-
wenden haben. Ein gespanntes englisch-französisches Verhältnis wünsche
Deutschland nicht, weil es den Weltfrieden wünsche. Im Mittelmeere
und in Marokko sei Deutschland im wesentlichen wirtschaftlich interessiert
und habe ein erhebliches Interesse an Ruhe und Ordnung in Marokko.
„Unsere merkantilen Interessen in Marokko müssen und werden wir
schützen. Wir haben keinen Grund zu befürchten, daß diese unsere Inter-
essen in Marokko von irgendeiner Macht mißachtet oder verletzt werden
könnten.“
Wer diese Sätze und Wendungen aufmerksam durchliest, wird zu-
nächst den Eindruck einer gewissen Zurückhaltung in der Beurteilung der
Bedeutung des Abkommens empfinden. Die Wendungen: „was vor-
zuliegen scheint“, ferner: „Man habe keine Ursache anzunehmen, das
Abkommen enthalte eine Spitze gegen eine andere Macht“ — lassen darauf
schließen. Es mag dahingestellt sein, ob der Reichskanzler diese unbestimm-
ten, auch als Vorbehalt zu verstehenden Wendungen gebraucht hat, weil
das Abkommen ihm von der französischen Regierung nicht amtlich mit-
geteilt worden war, oder weil er vermutete, daß neben dem veröffent-
lichten Abkommen noch geheime Abmachungen beständen. Die Eventua-
litäten, welche er in dieser Beziehung öffentlich zu betonen für angezeigt
hielt, legt er in die Sätze, welche Ruhe und Ordnung in Marokko als ein
„erhebliches Interesse“ Deutschlands bezeichneten, und daß man unsere
merkantilen Interessen in Marokko schützen „müsse“ und „werde“. Der
letzte Satz wiederum: „Wir haben keinen Grund usw...“ konnte viel-
leicht von Wissenden damals als eine leise Warnung ausgelegt werden.
Soweit war alles konsequent und entsprach den tatsächlichen Richt-
linien der Bülowschen Politik. Die Wendung des Kanzlers, wir hätten
kein Interesse an einem gespannten englisch-französischen Berhältnisse,
schon im Interesse des Weltfriedens nicht, erregte damals vielfach Wider-
spruch; auch im Reichstage wurde dem Kanzler vorgeworfen, das englisch-
französische Abkommen bedeute eine Niederlage der deutschen Politik.
Der größte Teil der nationalen Presse war sich darüber einig, daß gerade
die Beseitigung von Oifferenzpunkten zwischen Großbritannien und
Frankreich, ganz abgesehen von Marokko selbst, die europäische Stellung
des Deutschen Reiches schädige und schwäche. Wenn Fürst Bülow sich
gegen diese und andere Vorwürfe meist mit dem Argumente verteidigte,
es sei durchaus nicht erforderlich für die deutschen Interessen: Zwietracht
zwischen anderen Mächten zu stiften oder bestehende Zwiespalte offen
zu halten, so war nur natürlich, daß er das Gegenteil öffentlich unter