238 5. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908.
seine zahlenmäßig starke Baltische Flotte aus. Gut geleitet und rücksichte-
los eingesetzt, konnte diese Streitmacht einen Umschwung zur See herbei-
führen. Auch in Zapan und England war man dieser Ansicht. Die Bal-
tische Flotte war erst im Herbst 1904 seebereit und verließ am 16. Oktober
unter dem Befehl des Bizeadmirals Rojestwenski den Hafen von
Libau, um nunmehr durch die dänischen Gewässer die Nordsee und den
Ozean zu erreichen. Es ist möglich, daß die russische Regierung gewünscht
hat, Deutschland möge gestatten, daß die Flotte den Nordostseekanal
passiere. Jedenfalls wurde diese Frage in der Presse erörtert mit dem Er-
gebnisse, daß der Nordostseekanal eine rein deutsche Verkehrsstraße sei,
seine Benutzung durch Streitkräfte einer kriegführenden Macht also eine
Verletzung der deutschen Neutralität bedeuten würde.
Schon bevor die baltische Flotte in See gegangen war, tauchten zu-
nächst in der russischen Presse vage Gerüchte auf, daß der Baltischen Flotte
schon in den europäischen Gewässern Gefahr drohe. Allgemein dachte
man an unterseeische Minen, und die Flotte bediente sich deshalb bereits
in der Ostsee und in den dänischen Gewässern aller Vorsichtsmaßregeln
gegen Minengefahr. Dazu kam, daß die Offiziere und die Mannschaften
der Baltischen Flotte nicht genügend ausgebildet, zum mindesten aber
des praktischen Seedienstes entwöhnt waren, und so mag auch die Ner-
vosität eine ziemlich hohe gewesen sein. Russische Kriegsschiffe hielten
einen Geestemünder Fischdampfer für ein feindliches Schiff und beschossen
ihn, ohne ihn allerdings zu verletzen. Die Sache wurde in Kürze beige-
legt. Als dann die russische Flotte am 24. Oktober nachts die Dogger
Bank, nicht weit von dem englischen Hafen Hull, passierte, geriet sie in
die Nähe einer englischen Fischerflotte. Man glaubte angreifende Tor-
pedoboote zu sehen, leuchtete mit den Scheinwerfern und schoß mit den
Geschützen. Das Ergebnis war die Verletzung einiger Fischerfahrzeuge
und Berlust von Menschenleben. Oieser sogenannte Huller Zwischen-
fall hatte eine ungeheure Erregung in Großbritannien zur Folge. Ein
großer Teil der britischen Presse rief nach Krieg und, ähnlich wie nach
dem Krüger-Telegramm, wurden in den britischen Häfen auch kriegerische
Vorbereitungen getroffen. Die Erbitterung war um so größer, als die
russische Flotte, ohne sich irgendwie um die beschossenen Fischerboote zu
kümmern, ihren Weg fortsetzte, der zunächst nach dem spanischen Hafen
von Vigo führte.
Auf eine Depesche mit dem Ausdrucke „tiefen Bedauerns“ des Zaren
an König Eduard erklärte der Minister Brodrick: Das Bedauern des Kai-
sers von Rußland und das Versprechen, Entschädigung zu leisten, könnten
allein nicht genügen, um das Vorgehen der Russen zu fühnen. DOie ganze
Welt müsse wünschen, daß England Sicherheit dafür erhalte, daß ähnliche