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zuteilen, da es nicht in Paris, sondern in London geschlossen worden sei.
Den im Herbst 1904 zu Paris geschlossenen französisch-spanischen Ver—
trag habe er schon vor der Veröffentlichung durch den französischen Ge-
sandten in Berlin, Mr. Bihourd, dem deutschen Staatssekretär des Aus-
wärtigen Amtes, Freiherrn von Nichthofen, mitteilen lassen. Dieses
Abkommen sei aus dem englisch-französischen hervorgegangen, und des-
halb habe er, ODelcassé, geglaubt, hiermit alles RNötige getan zu haben.
Nachdem der deutsche Botschafter Fürst Radolin den Inhalt dieser Unter-
haltung nach Berlin mitgeteilt hatte, erließ der Reichskanzler das folgende
Schreiben nach Paris:
„Oaß ein diplomatisches Aktenstück von solcher Tragweite wie das
Marokkoabkommen nicht auf Grund mündlicher Wiedergabe beurteilt
werden kann, bedarf keines Beweises. Für Eröffnungen von solcher
Wichtigkeit ist die schriftliche Form die durch den diplomatischen Gebrauch
konsekrierte. Die formelle und materielle Unzulänglichkeit der im Laufe
des vorigen Jahres von Herrn Oelcassé durch Eure Ourchlaucht und durch
Herrn Bihourd hierher übermittelten Andeutungen und Fingerzeige ist
eine Tatsache, über die keiner der beiden Teile sich nachträglich hinweg-
setzen kann. Ob bei diesen Andeutungen ein Wink mehr oder weniger
gegeben wurde, ist ein unerheblicher Umstand“ usw. usw.
Inzwischen waren auch Berichte des deutschen Gesandten in Tanger,
Grafen Tattenbach, über die Vorschläge und das Vorgehen des fran-
zösischen Gesandten beim Sultan von Marokko eingelaufen. Diese Be-
richte ließen nicht nur die Absicht außer Zweifel, Marokko zu „tunifizieren“,
sondern ebensowenig, daß Oelcassé sofort und mit Gewalt durch jene
oben angedeuteten Reformen Marokko zur Anerkennung der franzö-
sischen Borschläge und damit der französischen Oberherrschaft zwingen
wollte. Der französische Gesandte hatte sich auf ein „Mandat Europas
für Frankreich“ berufen. Der Sultan fragte den deutschen Konsul in
Fes, wie es damit stände, und dieser erklärte sachgemäß, daß Deutsch-
land ein solches Mandat nicht erteilt habe. Aicht lange nachher erklärte
Delcassé im Senate: Narokko habe die Natschläge Frankreichs erbeten
und erklärt, sie befolgen zu wollen. Der Sultan äußerte sich dem deut-
schen Konsul gegenüber, das seien „reine Unwahrheiten“, die marokka-
nische Regierung habe auch im Prinzip die französischen Reformvor-
schläge nicht angenommen und er, der Sultan, habe nur die Ankunft des
deutschen Gesandten abgewartet, um sich mit ihm zu besprechen. Graf
Tattenbach berichtete, daß der französische Gesandte in Fes im Auftrage
Delcassés erklärt hätte: die französische Regierung würde es als eine Be-
einträchtigung ihrer Interessen ansehen, wenn die französischen Reform-
vorschläge den Signatarmächten der Madrider Konvention zur Ois-