Zur Einführung. XXIX
tere Erschütterung des italienischen Verhältnisses zu den Mittelmächten, stei-
gende Rüstungen Frankreichs, Rußlands und Großbritanniens. Dazu kommt
wachsende Entfremdung der Bereinigten Staaten dem Deutschen Reiche
gegenüber, trotz aller deutschen Werbungen um amerikanisches Wohlwollen.
AMit der Bosnischen Krisis und nachher tritt die Orientfrage immer
beherrschender in den Vordergrund. Die unter Englands Leitung ge-
führte Politik der großen Koalition läuft auf Schwächung und Bernich-
tung der neuen Türkei hinaus, damit auf Unmöglichwerden jeder posi-
tiven Orientpolitik und Orientwirtschaftspolitik des Deutschen Reiches.
Dazu kommt die Erwägung, daß eine derartige Auflösung des Orients
und die ihr entsprechende Entwicklung auf der Balkanhalbinsel zunächst
zur Schwächung und allmählich zur Zersetzung und Vernichtung Öster-
reich-Ungarns führen müsse. Serbien tritt als balkanischer Sprengmittel-
punkt in den Vordergrund. Rußland steht hinter Serbien, Großbritannien
hinter Rußland. Die allgemeine Lage spitzt sich weiter zu.
Znzwischen glaubt Frankreich die marokkanische Frucht reif, und es
kommt zum Zwischenfall von Agadir. Europa steht an der Schwelle des
Krieges, welcher aber durch deutsche Nachgiebigkeit verhbindert wird. Es
schließt sich an der Tripoliskrieg JZtaliens. Ihm folgen die Balkankriege und
im unmittelbaren Zusammenhange schließt sich die Katastrophe von 1914 an.
Ze weiter jene Periode fortrückt und zur Bergangenheit wird, desto
klarer und erschütternder zeigt sich der Eindruck, wie das Deutsche Reich,
Ende der achtziger Jahre gebietend und umworben auf kunstooll fester
politischer und diplomatischer Grundlage in der Welt stehend, seitdem durch
schwankende und unzureichende Politik ein Stück des Bismarckischen Erbes
nach dem anderen verlor, günstige Gelegenheiten zu einem gerechten Kriege
für die Berteidigung seiner Lebensinteressen unbenutzt ließ undschließlich 1914
ohne politische und diplomatische Vorbereitung, politisch beinahe isoliert,
in den Großen Krieg hineinverwickelt wurde. Von diesen Oingen wird
in einer besonderen Vorgeschichte des Großen Krieges noch zu reden sein.
Sie konnte aus mancherlei Gründen bisher noch nicht abgeschlossen werden,
geschweige denn erscheinen.
Die Geschichte der Politik des Deutschen Reiches seit Beginn der
neunziger Jahre bedeutet den mit unzureichenden diplomatischen und
politischen Mitteln, mit mangelndem Klarblick und ohne Einheitlichkeit
staatomännischer Gedanken gemachten Versuch, die deutsch-englische Frage
einer ersprießlichen Löfung entgegenzuführen. Diese Frage ziebt sich durch
alle jene Jahre hindurch und beherrscht im Grunde alles, was geschieht.
Mit Beginn der neunziger Zahre sieht Großbritannien im Deutschen
Reiche den wirtschaftlichen Wettbewerber der Zukunft, die Macht, welche
nach dem Muster Spaniens, Hollands, Frankreichs vernichtet oder auf