268 3. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908.
matie und deren Trägern hatte Delcassé nur geringe Meinung, und er
glaubte, ebenso wie man in England dachte: die deutsche Politik werde
eine unbedingt friedliche sein. Wenn man sie vor den Kopf stieße, würde
sie vielleicht aufbegehren, aber schließlich nachgeben. Mit der Möglichkeit
eines Krieges dürfte aber auch Oelcassé gerechnet haben. Diese Rechnung
zeigte ihm die folgende Lage: Rußlands europäische Aktionskraft war
so gering, daß sie kaum mitzählte. Auf der anderen Seite war man in
Frankreich und Großbritannien überzeugt, daß Österreich-Ungarn durch
seine inneren Streitigkeiten völlig zerrüttet wäre und im Falle eines
Krieges nicht aktionsfähig sein werde. In Paris und London glaubte
man, Italiens vollkommen sicher zu sein, und hat wohl angenommen,
die italienische Politik werde zunächst neutral bleiben und dann in das
englisch-französische Lager übergehen. Nach den Erfahrungen des Zahres
1914/15 kann man kaum zweifelhaft sein, daß es so gekommen wäre,
wenn ernstliche Waffenerfolge gegen Deutschland erfochten worden wären.
Wie wir sahen, war ein Jahr vorher der Dreibund nur mit Mühe und
gegen den Widerstand einer starken Strömung in ZItalien erneuert wor-
den. Oas italienisch-französisch-englische Tripolisabkommen war kurz vor-
her abgeschlossen worden, das französisch-britische Marokkoabkommen,
1904, hatte dann einen tiefen Eindruck in Italien gemacht. Für die Psycho-
logie der damaligen Beziehungen zwischen der französischen und italie-
nischen Regierung ist das erwähnte Telegramm Tittonis bezeichnend ge-
nmug: „Deutschland wird nie wagen, Sie anzugreifen, wenn Sie mit Eng-
land verbündet sind.“ — Das war der Kern der Delcasséschen Rechnung.
Demgegenüber kam für ihn selbst die Tatsache nicht in Betracht, daß Frank-
reich weder zu Lande noch zur See militärisch bereit war. Möglicher-
weise hat er auch Deutschland für nicht bereit gehalten.
Die deutsche Flotte war damals eine unbeachtliche Größe. Der
deutsche Seehandel mit allem, was dazu gehört, hätte, nach einer von
Fürst Bülow berichteten Redewendung, vor der englischen Flotte gelegen
wie Butter vor dem Messer. Anderseits hatte eine energische deutsche
Flottenbaupolitik begonnen, ein großes wirtschaftliches Gedeihen er-
füllte und belebte ganz Deutschland. Wer beute jene Lage beurteilt,
wird das Folgende feststellen müssen: Der deutsche Seehandel mit den
Kolonien und überseeischen Interessen wäre zweifellos der großbritan--
nischen Flotte ohne Mühe zum Opfer gefallen, die deutschen Küsten wären
einer unmittelbaren Blockade schwerlich entgangen. Die deutsche Geld-
wirtschaft war damals schwerlich so gut gerüstet für einen großen Krieg
gewesen wie zehn Jahre später, die deutsche Zndustrie und Landwirtschaft
— die letztere besonders infolge der vorhergegangenen fehlerhaften Wirt-
schaftspolitik — waren ebenfalls lange nicht so leistungsfähig wie zehn Jahre