278 3. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1008.
den „Schutz der Ostsee“ im Falle eines deutsch-russischen Konfliktes über-
nehmen. Die deutsch-russischen Beziehungen waren gerade damale besser
wegen der Haltung Deutschlands während des ostasiatischen Krieges,
aber die großbritannische Politik wußte, daß sie über die Mittel verfügte,
um auch auf diesem Gebiete eine andere Wendung der Dinge berbeizu-
führen. Als äußerer Anlaß für die Flottenreise nach der Ostsee wurde
von der britischen Presse die Fiktion genommen: das Oeutsche Reich
beabsichtige jetzt, nach Verschwinden der russischen Flotte aus der Ostsee,
diese zu einem geschlossenen Gewässer — einem „Mare clausum“ — für
die baltischen und skandinavischen Uferstaaten zu machen. England könne
sich das nicht gefallen lassen, denn die Ostsee sei ein offenes Meer und
gehöre allen seefahrenden Mächten gleichermaßen. Ein englisch beein-
flußter Teil der dänischen Presse hatte schon vorher das Signal zu dieser
in sich unsinnigen Agitation gegeben: die immer stärker werdende deutsche
Flotte maße sich die Herrschaft in der Ostsee an. Das dürfe Großbritannien
nicht dulden. Oie dänische Agitation war teils in England bestellte Ar-
beit, teils von altem Deutschenhasse eingegeben. In Wirklichkeit war die
Suggestion des Mare clausum nur Manöver, und zweifellos hat weder
ein englischer Seeoffizier noch ein englischer Staatsmann je ernsthaft daran
geglaubt. Der Gedanke eines Mare clausum war in sich unsinnig, weil
er dem Wesen der modernen Kriegführung widersprach. Berhältnisse,
wie sie im Schwarzen Meere herrschten, konnten am allerwenigsten auf
die Ostsee übertragen werden, zumal deren Zugänge, die Belte und der
Sund, in dänischer Hand liegen. Genug, die britische Flotte machte ihre
Fahrt nach der Ostsee und besuchte eine Anzahl deutscher Häfen dort. Die
deutsche Regierung tat alle5, um den Empfang der englischen Offiziere
und Seeleute zu organisieren, es wurden einige jener unvermeidbaren
überschwenglichen deutschen Reden gehalten, aber das deutsche Volk blieb
kühl: man begann allmählich zu begreifen. ODer britische Flottenführer,
Admiral Wilson, richtete ein eben höfliches Telegramm an den Oeutschen
Kaiser und erhielt als Antwort eine Oepesche, die gerade wegen ihrer
kühlen Kürze allgemeine Freude in Oeutschland erregte.
Während die Anwesenheit der englischen Flotte in den Ostseehäfen
nur ein, wenn auch bemerkenswertes Stimmungsbild des Verhältnisses
zwischen den beiden Nationen bot, so zeitigte die Rückfahrt der Flotte
und ihr Besuch jütländischer Häfen einen auch rein politisch wichtigen
Vorgang:
Die sogenannten Oelcasséschen Enthüllungen hatten der Welt ver-
kündet, daß Großbritannien den Franzosen versprochen habe, ihnen im
Falle einer Verwicklung mit Oeutschland 100 O00 Mann Truppen zu
Hilfe zu schicken, welche an der jütländischen Küste landen sollten. Jene