292 3. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908.
Mitte Zanuar 1906 erschien der großbritannische Militärattaché Bar-
nardiston bei dem belgischen Generalstabschef General Ducarne und wies
auf die Gefahr eines baldigen Kriegsausbruches hin. Das ist, beiläufig
bemerkt, ein neuer Beweis dafür, daß die großbritannische Regierung ent-
schlossen war, jeden ernsthaften Widerstand der deutschen Politik während
der Konferenz zu Algeciras zur Entfesselung eines europäischen Krieges
gegen Deutschland zu benutzen. Der großbritannische Attaché erklärte dazu,
man habe für den Fall, daß Belgien angegriffen würde, die Landung von
100000 Mann großbritannischer Truppen vorgesehen, und zwar sollten
diese in der Gegend von Dünkirchen und Calais landen. Antwerpen werde
man später als Verpflegungsbasis benutzen, nachdem die Nordsee von
deutschen Kriegsschiffen gesäubert worden sei. Diese Besprechungen wurden
in der Folge auf alle militärischen und technischen Einzelheiten ausgedehnt.
Im Herbste des gleichen Jahres 1906 trafen der großbritannische und der
belgische Generalstabschef im Manöver zusammen, und der Brite ver-
sicherte dem Belgier, daß die Reorganisation der britischen Armee nicht nur
die Landung von 150 000 Mann anstatt 100 000 ermögliche, sondern daß
die Festlandaktion des Heeres in kürzerer Zeit gewährleistet sein werde,
als man vorher angenommen habe. — Vorgreifend sei an dieser Stelle
schon bemerkt, daß aus einem aufgefundenen belgischen Schriftstücke vom
Jahre 1912, nach der letzten Marokkokrisis, der derzeitige britische Militär--
attaché auf eine belgische Einwendung erklärt hat, man würde auch ohne
Belgiens Zustimmung „auf jeden Fall“ gelandet und durch Belgien mar-
schiert sein.
Der in der Spannungszeit improvisierte Plan einer Landung an der
schleswig-holsteinischen oder jütländischen Küste war also fallen gelassen
worden zugunsten einer Landung in der Gegend von Calais, gefolgt von
beschleunigtem Marsche nach Belgien im Bereine mit französischen Truppen.
Oiese sollten dann unter Mitreißung der belgischen Armee von Nordwesten
aus in deutsches Gebiet nach dem Abeinlande angriffsweise vorstoßen.
Die Einzelheiten dieser Abmachungen und diejenigen der Fragen bel-
gischer Neutralität können in diesem Rahmen nicht erörtert werden, son-
dern bleiben einer speziellen Borgeschichte des Krieges 1914/15 vor-
behalten. Hier kommt es nur auf die Feststellung der Tatsachen an, daß
vom Beginn des Jahres 1906 an, wenn nicht formal, so doch de facto
eine großbritannisch-französisch-belgische Militärkonvention bestand. Sie
ist seitdem durch fortgesetzte Besprechungen der maßgebenden militärischen
und politischen Persönlichkeiten auf dem laufenden gehalten und immer
sorgfältiger ausgestaltet worden.
Belgien gravitierte damals schon politisch ganz nach der französischen
Seite hin, und die politische Leitung ebenso wie die größere Menge der