Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

306 3. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908. 
  
in Petersburg einer solchen Haltung seitens des Deutschen Reiches vor- 
her nicht versehen gehabt hatte. Rußland erhielt auf diese Weise an seinen 
europäischen Grenzen nicht nur unbedingte Sicherheit, sondern Rücken- 
deckung, es konnte auch wegen der Balkanhalbinsel und des Orients be- 
ruhigt sein. Osterreich-Ungarn und das Deutsche Reich hätten die russische 
Notlage gerade hier leicht und gründlich ausnutzen können. 
Welches die Richtung und die Ziele der Politik des Deutschen Reiches 
damals gewesen seien, ist mit vollständiger Klarheit und Sicherheit noch 
nicht öffentlich bekannt. Eine tätige Politik hatte zwei Wege, als der 
Russisch- Zapanische Krieg ausbrach und während er seinen bekannten 
Verlauf nahm. Das Oeutsche Reich konnte die Gelegenheit benutzen, um 
sich zum Herrn des festländischen Europa zu machen. Es konnte Rußland 
zwingen, eine Verbesserung der deutsch-russischen Grenzen zuzugeben, e#s 
konnte die Gelegenheit benutzen, um seine Stellung auf der Balkanhalb-- 
insel und dem Orient im Verein mit Österreich-Ungarn auszubauen, es 
konnte schließlich die militärische russische Ohnmacht benutzen, um mit 
Frankreich ein für allemal abzurechnen. 
Im Februar 1904 begann der Russisch-Japanische Krieg und endete 
im Herbst 1905. Während dieser Zeit bildete sich das feste intime fran- 
zösisch-britische Einvernehmen militärisch und politisch aus. Formell wurde 
die sogenannte Entente Cordiale im April 1904 geschlossen, während ihre 
Schließung bereits im Herbst 1903 feststand. Aicht nur die Marokkofrage 
war damit auf die Tagesordnung gebracht worden, sondern durch die 
Zusammenschließung der beiden Westmächte war eine völlig neue Macht- 
gruppierung in Europa entstanden. Man konnte nicht bezweifeln, daß 
diese Gruppierung sich gegen das Deutsche Reich richten sollte und richtete. 
Wie gezeigt worden ist, war Frankreich in den Jahren 1904/65 militärisch 
nicht bereit und ohne die Möglichkeit, sich schnell in den Zustand genügen- 
der Stärke und Bereitschaft zu setzen. Das Oeutsche Reich befand sich 
unter dem Gesichtspunkte der Machtfrage damals in einer ungemein 
günstigen Lage, zumal an englische Truppenhilfe für Frankreich auf dem 
Festlande gar nicht zu denken war; die Expeditionsarmee, welche 1914 in 
Stärke von 160 000 Mann in Tätigkeit trat, ist erst seit dem Jahre 1906 
orgen siert worden. Eine entschlossene und weitblickende deutsche Politik 
bätte mithin im Sinne des Begriffes eine endgültige Abrechnung mit 
Frankreich vornehmen können, ohne jede Sorge binsichtlich Rußlands und 
ohne den Zweifrontenkrieg führen zu müssen. Der Deutsche Reichskanzler 
Fürst Bülow hat diesen Weg nicht eingeschlagen. In der Besprechung der 
Marokkokrisis ist gezeigt worden, daß die Politik des Deutschen Reiches in 
jenen Jahren eine solche unbedingter Erhaltung des Friedens war, und 
zwar unter unbedingter Vermeidung eines Aufrollens der Machtfrage in
	        
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