Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

316 3. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908. 
  
Staatsmänner, Kaufleute und Bankleute erkannten von weitdber die un- 
gebeuren Aussichten, welche eine enge deutsch-türkische Berbindung für beide 
Mächte auf die Dauer bedeuten mußte. Einfluß und Macht Deutschlands 
im Orient bielt man für eine nicht minder große Gefahr wie eine wirkliche 
Stärkung der Türkei. Bereits damals bearbeitete Großbritannien mit der 
üblichen Konsequenz die arabischen Stämme, um eine spätere Abtrennung 
Arabiens von der Türkei zu erlangen und sich damit den Landweg nach In- 
dien zu bahnen und zu sichern. Schon damals sah man Erstarkung der Tür- 
kei unter gleichzeitigem Ausbau eines türkischen Eisenbahnnetzes als eine 
schwere Gefahr für Agppten an. Aicht weit dahinter lauerte die Angst um 
Zndien. Wenige Jahre vorher hatte Lord Curzon, der Bizekönig von IZn- 
dien, in Reden und Schriften den Gedanken ausgeführt, daß nicht nur 
Tibet und Beludschistan, sondern auch Südpersien, der Persische Golf, 
Arabien, der Indische Ozean und Ostafrika das für den Schutz Indiens 
notwendige Glacis bildeten. 
Man sagte sich in Großbritannien ferner, daß durch eine fortschreitend 
lebendige Ausgestaltung des deutsch-türkischen Berhältnisses mit seinen 
Beziehungen auch die Balkanstaaten politisch ein anderes Aussehen er- 
halten würden als bisher. Bon Rumänien wußte man, daß es in engen Be- 
ziehungen zu Osterreich-Ungarn und dem Oeutschen Reiche stand. Wie sich 
die Dinge mit den anderen Balkanstaaten entwickelten, blieb dahingestellt, 
aber man war in London der Ansicht, daß diese Entwicklung den britischen 
Interessen abträglich sein müßte, da der Einfluß der europäischen Zentral- 
mächte auf der Balkanhalbinsel wirtschaftlich ebensowohl wie politisch 
wachsen werde. Das war zu verhindern, und zwar mit allen Mitteln. In 
Frankreich teilte man die englische Ansicht und arbeitete gegen Deutsch- 
land nicht nur in Konstantinopel, sondern hauptsächlich auch in Rom, 
wo auf die Gefährlichkeit angeblicher österreichischer Ausdehnungspläne 
auf dem Balkan bingewiesen wurde. Die österreichisch-ungarische Politik 
hat, wie hier vorgreifend bemerkt sein mag, seit 1878 an Gebietsausdeh- 
nungen auf der Balkanhalbinsel niemals gedacht. Daß sie dagegen hoffte 
und anstrebte, auch mit dem Handel Österreich-Ungarns die Balkanhalb- 
insel und den Orient zu durchdringen, war selbstverständlich. Osterreich- 
Ungarn hatte sich durch die Mürzsteger Vereinbarungen 1903 mit Ruß- 
land über die Balkanpolitik der beiden Mächte geeinigt. Man war über- 
eingekommen, den Status quo aufrechtzuerhalten und ohne Überein— 
stimmung mit der anderen Macht nichts zu tun, was den Status quo auf 
der Balkanhalbinsel beeinträchtigen könnte. Rußland wollte damals Ruhe 
im nahen Orient haben, weil es seine Kraft für die große, weitausgreifende 
Politik im fernen Osten brauchte. Darauf beruhte im letzten Grunde jenes 
russisch-österreichische Einvernehmen, und eben an diesem Punkte setzte
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.