Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Das russisch-britische Abkommen und andere Abkommen. 325 
  
zunächst unmerklich, dann ungreifbar eine immer größere Fläche bedeckt. 
Bald drangen die französischen Truppen über Casablanca hinaus in das 
Innere des Landes vor, eroberten das Schaujagebiet und erweiterten 
ihren Bereich fortgesetzt. Gegen Ende des Zahres 1907 standen weit über 
10000 Mann französische Truppen in Marokko. Für die Kosten ihrer 
Unterhaltung und der Kriegführung überhaupt betrachtete die französische 
Regierung den marokkanischen Staat als ersatzpflichtig und in diesem Sinne 
die besetzten marokkanischen Gebiete als Hppothek. Man wußte selbst- 
verständlich in Frankreich — und mußte es auch in Berlin wissen —, daß 
Marokko niemals imstande sein würde, diese „Hypotheken“ wieder abzu- 
lösen, ebensowenig die ihm aufgezwungenen Anleihen zu bezahlen oder 
auch nur zu verzinsen. 
Im gleichen Jahre 1907 erhob sich gegen den Sultan von Marokko 
Abdul Asis sein Bruder Mulai Hafid. Es gelang ihm — wie vorgreifend in 
diesem Zusammenhange bemerkt sein mag —, im Sommer 1908 die Re- 
gierungstruppen zu besiegen, Abdul Asis aus seiner Hauptstadt Fes zu ver- 
treiben und vom überwiegenden Teile des Landes seine Anerkennung als 
Herr und Sultan zu erlangen. Die Franzosen hatten versäumt, Mulai 
Hafid mit seinem Heere rechtzeitig zu vernichten und standen nun der voll- 
endeten Tatsache gegenüber. Deshalb regte die deutsche Regierung an, 
man möge Mulai Hafid als Sultan anerkennen, weil er die Macht in 
Händen hatte und seine Anerkennung als einzige Möglichkeit erschien, 
wieder Ruhe im Lande eintreten zu lassen. In Großbritannien und Frank- 
reich erblickte man in Mulai Hafid zunächst einen „deutschen Prätenden--- 
ten“ und stellte sich entsprechend abgeneigt und mißgünstig. In der Tat 
hatte die deutsche Regierung nicht an derartige Pläne gedacht, sondern 
wollte nur Ruhe im Lande, obgleich damals gerade Gelegenheit war, wenn 
man wollte, die Marokkofrage noch einmal aufzurollen und in anderer 
Weise als bieher zur Lösung zu bringen. Aus den angedeuteten Gründen 
wurde die Gelegenheit nicht benutzt. 
Mulai Hafid wurde schließlich von Frankreich anerkannt mit der Maß- 
gabe, daß er sich auf den Boden der Algecirasakte stelle und die Berpflich- 
tungen Abdul Asis' gegen Frankreich übernähme: für die Ausêgaben 
zu haften, welche Frankreich durch seine Truppenexpeditionen nach und 
in Marokko gehabt habe. Auch dieses erkannte die deutsche Regierung an, 
und ihre Meinung: Frankreich möge möglichste Rücksicht auf die marok- 
kanischen Finanzen nehmen, wurde selbstverständlich von der französischen 
Regierung bereitwillig, aber ohne den Schatten einer Albsicht, entsprechend 
zu handeln, angenommen. Es konnte nicht fehlen, daß Mulai Hafid schnell 
in gleiche Abhängigkeit von Frankreich geriet wie sein Bruder; denn 
anders ist es noch nie dem Herrscher eines halbwilden Landes gegangen,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.