Das russisch-britische Abkommen und andere Abkommen. 325
zunächst unmerklich, dann ungreifbar eine immer größere Fläche bedeckt.
Bald drangen die französischen Truppen über Casablanca hinaus in das
Innere des Landes vor, eroberten das Schaujagebiet und erweiterten
ihren Bereich fortgesetzt. Gegen Ende des Zahres 1907 standen weit über
10000 Mann französische Truppen in Marokko. Für die Kosten ihrer
Unterhaltung und der Kriegführung überhaupt betrachtete die französische
Regierung den marokkanischen Staat als ersatzpflichtig und in diesem Sinne
die besetzten marokkanischen Gebiete als Hppothek. Man wußte selbst-
verständlich in Frankreich — und mußte es auch in Berlin wissen —, daß
Marokko niemals imstande sein würde, diese „Hypotheken“ wieder abzu-
lösen, ebensowenig die ihm aufgezwungenen Anleihen zu bezahlen oder
auch nur zu verzinsen.
Im gleichen Jahre 1907 erhob sich gegen den Sultan von Marokko
Abdul Asis sein Bruder Mulai Hafid. Es gelang ihm — wie vorgreifend in
diesem Zusammenhange bemerkt sein mag —, im Sommer 1908 die Re-
gierungstruppen zu besiegen, Abdul Asis aus seiner Hauptstadt Fes zu ver-
treiben und vom überwiegenden Teile des Landes seine Anerkennung als
Herr und Sultan zu erlangen. Die Franzosen hatten versäumt, Mulai
Hafid mit seinem Heere rechtzeitig zu vernichten und standen nun der voll-
endeten Tatsache gegenüber. Deshalb regte die deutsche Regierung an,
man möge Mulai Hafid als Sultan anerkennen, weil er die Macht in
Händen hatte und seine Anerkennung als einzige Möglichkeit erschien,
wieder Ruhe im Lande eintreten zu lassen. In Großbritannien und Frank-
reich erblickte man in Mulai Hafid zunächst einen „deutschen Prätenden---
ten“ und stellte sich entsprechend abgeneigt und mißgünstig. In der Tat
hatte die deutsche Regierung nicht an derartige Pläne gedacht, sondern
wollte nur Ruhe im Lande, obgleich damals gerade Gelegenheit war, wenn
man wollte, die Marokkofrage noch einmal aufzurollen und in anderer
Weise als bieher zur Lösung zu bringen. Aus den angedeuteten Gründen
wurde die Gelegenheit nicht benutzt.
Mulai Hafid wurde schließlich von Frankreich anerkannt mit der Maß-
gabe, daß er sich auf den Boden der Algecirasakte stelle und die Berpflich-
tungen Abdul Asis' gegen Frankreich übernähme: für die Ausêgaben
zu haften, welche Frankreich durch seine Truppenexpeditionen nach und
in Marokko gehabt habe. Auch dieses erkannte die deutsche Regierung an,
und ihre Meinung: Frankreich möge möglichste Rücksicht auf die marok-
kanischen Finanzen nehmen, wurde selbstverständlich von der französischen
Regierung bereitwillig, aber ohne den Schatten einer Albsicht, entsprechend
zu handeln, angenommen. Es konnte nicht fehlen, daß Mulai Hafid schnell
in gleiche Abhängigkeit von Frankreich geriet wie sein Bruder; denn
anders ist es noch nie dem Herrscher eines halbwilden Landes gegangen,