350 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
den Entschluß gefaßt, eine Eisenbahn durch den Sandschak Nowibasar
zu bauen und so die bereits vorhandene bosnische Eisenbahn von Uwatsch
bie Mitrowitza zu verlängern. Nach Ausfüllung dieser Lücke würde eine
direkte Bahnverbindung von Wien über Graz—Agram—Sarajewo—
Mitrowitza und Usküb nach Saloniki vorhanden sein. Freiherr v. Aehren-
thal berief sich in seinen Llusführungen auf das Recht, welches Osterreich-
Ungarn hierzu nach Artikel 25 des Berliner Bertrages (1878) zustand.
Dieses Recht Osterreich-Ungarns war ausdrücklich und unbestreitbar. Des-
halb hatte der österreichisch-ungarische Minister auch die anderen Mächte
nicht erst gefragt, sondern alle Vorbereitungen getroffen, schon bevor er
in den Oelegationen seinen Plan verkündete: unmittelbar nachher wurde
die Zustimmung des Sultans formell zum Bahnbau erteilt.
Die Beröffentlichung dieses Planes fiel wie eine Bombe in die Bal-
kan- und Orientpolitik aller der anderen Mächte binein, welche 1914 unsere
Gegner geworden sind. Ihre Politik wollte Osterreich und Deutschland vom
Balkan abschließen, und der Bahnbauplan des Freiherrn v. Aebrenthal be-
zweckte das Gegenteil, nämlich die wirtschaftliche Berbindung mit Saloniki.
Unter Vortritt Großbritanniens erhob sich ein ungeheurer Lärm
gespielter Entrüstung. Das vertragliche Recht konnte man Österreich-
Ungarn leider nicht bestreiten, wenn auch ein Teil der britischen Presse
meinte: der Berliner BVertrag gestatte zwar das Recht zum Straßenbau
im Sandschak Nowibasar, aber nicht zum Eisenbahnbau; man sieht, mit
was für Argumenten gearbeitet wurde. Sir Edward Grep und die rus-
sische Regierung erklärten aber entrüstet, daß der Bahnplan die Mürz-
steger Konvention verletze und ebenso deren „internationale Ausgestaltung“,
denn Osterreich-Ungarn strebe mit dem Bahnbau eine wirtschaftliche
Sonderstellung in der Türkei an, habe sogar Sonderverhandlungen mit
dem Sultan angeknüpft. Das widerspräche dem Geiste uneigennützigen
internationalen Zusammenwirkens. Daneben gaben diese Mächte der
Auffassung Aus#druck, daß der Bahnplan durch die Balkanhalbinsel nach
Saloniki zwar wirtschaftspolitisch aussehe, aber nur die Vorstufe zum
machtpolitischen Vorstoße in der gleichen Richtung bilde. Diese Andeutung
galt mehr dem Deutschen Reiche als ÖOsterreich-Ungarn. In Großbritan-
nien, Rußland, Frankreich und in den Balkanstaaten bieß es: die Balkan--
halbinsel nicht nur, sondern der gesamte Orient sollten nunmehr mit Ein-
willigung der Türkei unter die germanische Hegemonie gebracht werden.
Großbritannien behauptete schließlich auch, daß sein Seehandel in der
Levante nach Kleinasien und Mesopotamien durch die Bahn Wien—
Saloniki leiden würde. Italien erblickte in der Bahn eine Bedrohung
seines adriatischen Handels nach der Balkanhalbinsel und nach der Levante.
Zn Serbien, Montenegro und Rußland aber war man voll Wut über einen