Orientpolitik und Bosnische Krisis. 353
Bestrebungen gerichtet sind: einerseits auf die Erhaltung der Einigkeit
unter den Mächten, anderseits auf die Zustimmung der Pforte zu den
vorgeschlagenen Reformen. Man kann von uns keinen Enthusiasmus
für Maßnahmen erwarten, die wir nicht für wirksam oder die wir gar
für gefährlich halten. Zu den letzteren rechnen wir Neuerungen, die die
Landeshoheit des Sultans gefährden und dadurch die Türkei und ihre
mohammedanische Bevölkerung zum äußersten Widerstand reizen würden.“
Diese Wendungen, besonders die letzten beiden Sätze, bezeichneten
die ablehnende Stellung Bülows gegenüber dem Ziele der englisch-ruf-
sischen Zusammenarbeit auf dem Balkan: Mazedonien vom Türkischen
Reiche zu lösen und so das Signal zur Zertrümmerung der europäischen
Türkei zu geben. Der Standpunkt des Deutschen Reichskanzlers blieb auch
jetzt noch: Deutschland müsse in allen politischen Orientfragen sich nach
Möglichkeit zurückhalten. Im November 1907 noch hatte Bülow gesagt:
„Die Frage der mazedonischen Reformen gehört zu dem Kompler von
Fragen, in denen wir den Ententemächten in den Verhandlungen mit der
Pforte den Vortritt lassen.“ Im März 1908 war die Sprache des Kanz-
lers schärfer, enthielt aber trotzdem keine Andeutung, für die Türkei und
gegen die Großmächte Stellung zu nehmen. König Eduard und seine
Ratgeber rechneten mit dieser deutschen Zurückhaltung und hofften
„tätig“", daß sie türkische Mißstimmung gegen Deutschland zur Folge
haben würde.
König Eduard von England hatte seit Beginn seiner Regierung
großen Wert darauf gelegt, seine persönlichen Beziehungen zu Kaiser
Franz Joseph freundschaftlich und eng zu gestalten. Seit 1907 soll er ver-
sucht haben, ÖOsterreich-Ungarn von seinem deutschen Bundesgenossen
zu lösen, außerdem Kaiser Franz Joseph zu Einwirkungen auf den Deut-
schen Kaiser zu veranlassen, dieser möge den deutschen Flottenbau ein-
schränken. Kaiser Franz Joseph habe derartige Zumutungen von sich
gewiesen. In diesen Gerüchten wird, wie meist in ähnlichen Fällen, ein
Kern von Wahrheit stecken. Es kommt aber weniger darauf an, wieviel
Wahres daran gewesen ist. Hätte Deutschland in dieser Richtung nach-
gegeben, so würde das deutsch-britische Berhältnie nicht besser, sondern
nur die deutsche Stellung der großen Einkreisungsentente gegenüber eine
schwächere geworden sein. Gab Kaiser Franz Joseph sich zur Ubermittlung
eines solchen Auftrages nicht her, so handelte er nur klug, im Znteresse
der deutsch-österreichischen Beziehungen und damit im Znteresse der
Doppelmonarchie.
Was die großbritannischen Versuche betrifft, Osterreich-Ungarn auf
die Seite der Tripelentente zu bringen, so beziehen sich diese mit auf einen
Aufteilungsplan des Türkischen Reiches, der von Lord Curzon aus-
Graf Reventlow, Deutschlands auswäetige Polltie. 25