Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

354 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreifung. 1908—1914. 
  
gegangen sein soll. Danach hätte Großbritannien die asiatische Türkei von 
der europäischen abtrennen und ein Kalifat in Mekka errichten wollen. 
An dieser Teilung hätte Osterreich- Ungarn beteiligt werden sollen, während 
Deutschland leer ausging. Der Plan hätte die Vernichtung der Türkei 
bedeutet und eine ebenso überragende wie erdrückende Stellung Rußlands 
auf der Balkanhalbinsel und im nahen Orient. Osterreich-Ungarn hätte 
einen größeren Fehler, als auf ähnliche Vorschläge einzugehen, nicht 
machen können, denn über kurz oder lang wäre der des deutschen Rückhaltes 
entbehrenden Doppelmonarchie das Schicksal der Türkei bereitet worden. 
Es ist falsch, wenn hier und da angenommen ist, Österreich-Ungarn habe 
damals eine unpraktische Gefühlspolitik getrieben, wie z. B. in der Schrift 
„Wie wir zu Bosnien kamen" (Dr. A. Fournier) im Hinblick auf die letzte 
Begegnung zwischen König Eduard und Kaiser Franz FLoseph gesagt wird. 
Damals nach Reval hätte in Wien gerechtes Mißtrauen anläßlich der ruf- 
sisch-englischen Balkanentente bestanden, und das Verhältnis der beiden 
Regierungen sei gespannt gewesen. „Bielleicht hätte es Osterreichs Kaiser 
bessern können, wenn er damals sein freundschaftliches Berhältnis zum 
Deutschen Reiche etwas weniger bestimmt betont hätte, als es seiner 
Bundespflicht entsprach.“ — Oas ist realpolitisch ein starker Zrrtum, denn 
ein auf solche Weise gebessertes österreichisch-britisches Berhältnis würde 
schon bald die schwersten Rückschläge für Osterreich-Ungarn gezeitigt haben. 
Wie wenig sentimental die österreichisch-ungarische Politik dachte, ging 
übrigens aus den vielbemerkten Außerungen des Freiherrn v. Aehren- 
thal zu Anfang des Zahres 1908 hervor. Damals wies er auf die Grenzen. 
der österreichischen Bundespflichten hin. Das eigentliche Wesen des deutsch- 
österreichischen Bündnisses liege in dem für beide Mächte gleichermaßen 
vorhandenen Znteresse, daß jede von ihnen eine Großmacht bleibe. Für 
gewisse deutsche Sonderinteressen jedoch habe das Bündnis keine Geltung. 
„Wenn Oeutschland z. B. im Baltischen Meere oder in der Nordsee ein 
spezielles Interesse hätte und dort Verwicklungen entstehen würden, so 
würden dadurch unsere Berpflichtungen nicht berührt.“ — Ahnlich war 
der Standpunkt Osterreichs zu den verschiedenen Spannungen und Krisen 
in der Marokkoangelegenheit. 
Wie Fürst Bülow in seinen zitierten Worten angedeutet und 
wie die deutsche Regierung überhaupt vermutet hatte, wurden die von 
den Mächten unter Englands Führung der Türkei angeblich zur Reform 
der Zustände in Mazedonien gemachten Vorschläge zum Signal für schwere 
Unruhen. Die jungtürkische Bewegung trat plötzlich Mitte Juli 1908 
führend in den Vordergrund, beseitigte die absolute Gewalt des Sultans 
und setzte die Verfassung vom Jahre 1876 wieder in Kraft, welche Abdul 
Hamid nach dem Russisch-Türkischen Kriege hatte einschlafen lassen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.